Armes Land, reiche Städte? Die Sozialstruktur der Armut

Foto: Beat Estermann (CC BY-SA)

Armutsforscher der BFH gehen den räumlichen Dimensionen von Armut nach und zeigen Unterschiede zwischen Stadt und Land auf. Eine effektive Politik der Armutsbekämpfung sollte diese Unterschiede bei der Konzeption und Erbringung ihrer Leistungen miteinbeziehen.

Von Zeit zu Zeit flammt er auf. Er zeigt sich in Abstimmungsresultaten oder wird bewusst beschworen: Der Unterschied zwischen Stadt und Land schlägt sich angeblich in einem Graben nieder. Sozialer Wandel und fortschreitende Digitalisierung begünstigen dieses Auseinanderdriften. Neue Technologien verändern die Wirtschaft, was primär urbanen Zentren zugutekommt, während ländliche Gebiete mit landwirtschaftlicher Prägung zunehmend abgehängt werden. Diese Entwicklungen stellen den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe und sind mit unterschiedlichen Risiken der Verarmung verbunden.

Lange galten die Städte als Ballungszentren sozialpolitischer Problemlagen, wie es sich etwa in der Bezeichnung «AAA-Städte» niederschlägt, die auf besondere Risikogruppen wie Alte, Alleinstehende, Auszubildende, Arbeitslose und Ausländer*innen verweist, die in Städten übervertreten sein sollen. Trifft diese Feststellung heute noch zu? Ist Armut ein überwiegend städtisches Phänomen? Sind in Stadt und Land dieselben Personengruppen arm? Und welche Rolle spielt der geographische Raum in der heutigen, mobilen Welt? Um Armut effektiv bekämpfen zu können, müssen allfällige Unterschiede von städtischer und ländlicher Armut bekannt sein.

Neue Daten und Möglichkeiten führen zu neuen Einsichten

Der Wohnort, und damit die unmittelbare Lebenswelt, hat auf verschiedenen Ebenen einen Einfluss auf das Armutsrisiko. Die allgemeine Zugänglichkeit einer Region oder Wirtschaftsstrukturen, die lukrative Berufe bieten, beeinflussen die Möglichkeit am Arbeitsmarkt teilzunehmen und ein existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften. Die lokale Infrastruktur, die Angebote der öffentlichen Hand oder unterschiedliche Werthaltungen können zudem den Zugang zu Hilfe erleichtern oder erschweren.

Begünstigt durch eine verbesserte Datenlage gewinnt der Place-Based-Poverty-Approach in Europa zunehmend an Bedeutung. Im Rahmen des SNF-Projektes «Ungleichheit, Armutsrisiken und Wohlfahrtstaat» können wir eine für die Schweiz neuartige Datenbasis nutzen, die für die Armutsforschung neue Möglichkeiten eröffnet. So ist es uns möglich, die Wohngemeinde von Armutsbetroffenen innerhalb eines Kantons zu bestimmen. Dies ermöglicht kleinräumige Analysen, die wegen kleiner Fallzahlen sonst nicht machbar wären. Zudem können wir die Armutsbetroffenheit unter Berücksichtigung aller Einkommensquellen ermitteln – inkl. aller Sozialversicherungsleistungen sowie Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen oder Prämienverbilligungen. Darüber hinaus können wir für die Armutsmessung allfällige finanzielle Reserven – wie beispielsweise Pensionskassenvermögen – beiziehen.

Sozialstruktur der Armutsbevölkerung in Stadt und Land

In der Studie «Armes Land, reiche Städte?» gingen wir anhand von Daten des Kantons Bern unter anderem der Frage nach, ob sich die Sozialstruktur von Armutsbetroffenen in Stadt und Land unterscheiden. Es zeigen sich diverse Unterschiede. In ländlichen Gebieten sind die Armen häufiger pensioniert. Die Zahl der Betroffenen sinkt zwar deutlich, wenn die finanziellen Rücklagen berücksichtigt werden, der Anteil an armen Rentner*innen bleibt jedoch – im Gegensatz zu den Städten – über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Da unser vermögensbasiertes Armutsmass prüft, ob die Reserven für ein Jahr reichen, kann man die Hypothese aufstellen, dass über längere Zeiträume mehr Menschen im Alter armutsgefährdet sind.

Eine zweite auffällige Gruppe von Armen in ländlichen Gebieten sind Personen, die in der Landwirtschaft tätig sind. Nicht jede*r Landwirt*in ist in der Lage, sich den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, einige scheinen im Zuge des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels abgehängt zu werden.

In städtischen Gebieten sind andere Gruppen überproportional häufig unter den Armen zu finden: Beispielsweise freiberuflich tätige Personen, Kulturschaffende und Menschen, die persönliche Dienstleistungen erbringen – wie z.B. Haushaltshilfen. Diese Tätigkeiten gehen mit höheren Risiken einher als Berufe mit beständigen Arbeitsbedingungen – wie etwa in der Industrie, im Finanzwesen oder in der Verwaltung. Nicht alle Bevölkerungsschichten in den Städten können also vom technologischen Fortschritt profitieren und gewisse Gruppen sind gefährdet, ökonomisch Boden zu verlieren.

Ein weiteres Phänomen sind arme Ausländer*innen, die in den Städten deutlich häufiger anzutreffen sind. Allerdings ist nicht jede Herkunftsregion mit einem erhöhten Armutsrisiko behaftet. Menschen mit einem aussereuropäischen Hintergrund sind weitaus stärker betroffen als Personen aus europäischen Ländern. Ausländer*innen aus Nord- oder Westeuropa sind unter den Armen nicht übermässig vertreten. Dies unterstreicht, dass die globale Migration in einem wohlhabenden Land wie der Schweiz mit unterschiedlichen Armutsrisiken für verschiedene Ausländergruppen verbunden ist. Das Ergebnis spiegelt auch wider, dass Migrant*innen bei der Beantragung von Sozialhilfeleistungen auf Hürden stossen. Da diese zum Verlust der Aufenthaltsgenehmigung führen können, beantragen sie häufig mehr oder weniger freiwillig keine Sozialhilfe, was sie zu einer besonders vulnerablen Gruppe macht.

Soziale Interventionen auf den lokalen Bedarf abstimmen

Armut kann also in Stadt und Land unterschiedliche Gesichter haben. Aus sozialpolitischer Sicht scheint es angezeigt, diese Unterschiede bei der Planung und Konzeption der Armutsbekämpfung miteinzubeziehen. In den ländlichen Gebieten sollte sichergestellt werden, dass es ausreichend Beratungsprogramme gibt, die sich der Altersarmut und der Situation von Landwirt*innen annehmen. Da in ländlichen Gebieten der Zugang zu Sozialhilfe besonders erschwert ist, sollte gut darüber nachgedacht werden, wie Betroffene möglichst frühzeitig erreicht werden. Massnahmen in Städten sollten einen besonderen Schwerpunkt auf Menschen mit unsicheren Arbeitsverhältnissen wie Freiberufler*innen und Beschäftigte in persönlichen Dienstleistungen legen. Darüber hinaus sollten spezielle Programme vorhanden sein, um besonders Ausländer*innen ohne EU-Staatszugehörigkeit den Zugang zur Hilfe in einer Notlage zu ermöglichen.

 


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