Zur Interpretation und Rekonstruktion von Musikinstrumenten in Bildquellen. Versuch eines methodisch-praktischen Leitfadens

Ohne die Rekonstruktionen von Musikinstrumenten auf der Basis von Bildquellen wäre der Erfolg der Alten-Musik-Szene seit der Mitte des 20. Jahrhunderts kaum möglich gewesen. Insbesondere bei den mittelalterlichen Streichinstrumenten hatte man in Ermangelung von original erhaltenen Instrumenten schon früh begonnen sich auf Bildquellen zu stützen, wobei dies jedoch oft nur die äussere Form der Instrumente betraf. Die Innenkonstruktion und die spieltechnische Einrichtung basierte damals noch meist auf den Gegebenheiten der modernen Violinfamilie. Inzwischen wird bei Symposien mit musikikonographischen und organologischen Themen regelmässig erwähnt, dass Bildquellen mit Vorsicht zu behandeln seien, da es zu den Eigenheiten der bildenden Kunst gehört, dass Objekte nicht zwingend «gegenstandsnah» dargestellt sein müssen. Trotzdem werden bei solchen Anlässen nach wie vor häufig Serien von Bildausschnitten mit Musikinstrumenten gezeigt, die direkt zur Rekonstruktion eines Instruments bzw. eines aus verschiedenen Merkmalen zusammengesetzten «Archetyps» führen.
Als methodische Basis für eine musikikonographische Inhalts-Deutung von Bildquellen wird in der Musikwissenschaft meist auf Panofskys Dreistufen-Modell aus den 1930er Jahren verwiesen (z. B. Seebass, McKinnon, Baldassarre). Da für die Rekonstruktion eines Musikinstruments auf der Basis einer Bildquelle aber noch weitere Untersuchungs- und Interpretationsschritte notwendig sind, werden wir in diesem Paper einen methodisch-praktischen Leitfaden in sechs Schritten vorstellen. Diese beinhalten (1) die sog. Gegenstandssicherung und die Berücksichtigung des medialen Kontextes der Bildquelle, (2) eine vorikonographische Beschreibung des Bildinhalts im Allgemeinen und der organologischen und spieltechnischen Charakteristika des Musikinstruments im Besonderen, (3) eine ikonographische Analyse und (4) ikonologische Interpretation, (5) die organologische Deutung der sichtbaren Instrumententeile und (6) die Rekonstruktion der nicht dargestellten bzw. «unsichtbaren» Instrumententeile (wie z. B. der Innenkonstruktion). Alle sechs Schritte des Leitfadens werden durch Beispiele veranschaulicht und durch ein Glossar ergänzt.