Badrutt, Gaudenz (2020). Ferrari hören: Autoethnographische Höranalysen zu Les Archives Sauvées des Eaux und Les Arythmiques von Luc Ferrari (Dissertation, Universität Bern, Philosophisch-historische Fakultät / Graduate School of the Arts)
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Ferrari hören fokussiert auf die zwei elektroakustischen Werke Les Archives Sauvées des Eaux (2000) und Les Arythmiques (2003) des französischen Komponisten Luc Ferrari (1929–2005). Die Untersuchung basiert auf autoethnographischen Höranalysen, welche das individuelle Hörerlebnis ins Zentrum rücken und auf diesem Weg zu aufschlussreichen Ergebnissen in Form einer gehörten Werkanalyse führen. Ergänzend dazu wird Ferraris Schaffen auf spezifische Begrifflichkeiten hin untersucht und mit biographischen Hintergründen verknüpft. Als Pionier der Musique concrète, als Wegbereiter für gegenwärtige elektroakustische Musik und als einflussreiche Figur der aktuellen, nicht institutionellen experimentellen Elektronik-Musikszene ist der französische Komponist Luc Ferrari (1929–2005) eine Ausnahmeerscheinung in der Musikwelt. Denn stets widersetzte er sich vorgegebenen Grenzen, suchte die Verbindung zwischen unterschiedlichen Genres, Stilen wie auch Disziplinen und ließ dabei tradierte Abgrenzungen wie jene zwischen institutioneller und Underground-Musik unbeachtet. Ferrari bewegte sich mit seinem Schaffen nicht nur im Bereich von komponierter Musik; er kreierte ebenso Konzeptstücke, Filme, Hörspiele. Naheliegenderweise hat diese Offenheit in der Musik auch klangliche Konsequenzen. Ferraris elektroakustische Arbeiten Les Archives Sauvées des Eaux und Les Arythmiques sind gute Beispiele dafür, wie solche Grenzüberschreitungen sich klanglich wie auch in konzeptueller Hinsicht äußern können. Eine zusätzliche Grenzüberschreitung ist auch in Ferraris Konzept der Musique anecdotique zu finden, mit dem er sich der Hörerin und dem Hörer scheinbar unmittelbar zuwendet: Als zuhörende Person bin ich an der Entstehung der Musik genauso beteiligt wie Ferrari als Komponist; erst mit meinem eigenen individuellen Hörerlebnis wird die Musik zu einem Ganzen vervollständigt. Aus diesem Grund werden Les Archives Sauvées des Eaux und Les Arythmiques mit dem Verfahren einer autoethnographischen Höranalyse erstmals vertieft untersucht und die Ergebnisse davon in den Kontext von Ferraris gesamtem Schaffen eingeordnet. In der Arbeit wird zudem das hier entwickelte Verfahren einer Autoethnographie des Hörens als innovative Methode für die Erforschung elektroakustischer Musik ausgelotet. Die zuhörende Person wird dabei ins Zentrum gerückt. Wie entscheidend die Rolle der zuhörenden Person für die Formierung von Musik sein kann, wird mit ebendieser Methode erschlossen. Autoethnographie ist ein qualitativer Forschungsansatz, welcher aufgrund eines neuen Kulturverständnisses in den 1970er Jahren aus der Ethnographie heraus entstanden ist und gegenwärtig einen Entwicklungsschub erfährt. Der Ansatz rückt das Individuum und dessen Subjektivität in den Fokus. Autoethnographie möchte zu einer breiteren Weltsicht beitragen und relativiert im Falle der Musikwissenschaft traditionelle philologische und strukturanalytische Forschungsverfahren. Ferrari hören fokussiert denn auch auf das individuelle Hörerlebnis und verzichtet deshalb weitgehend auf den Rückgriff auf bestehende Hörtheorien und Analysemethoden. Écoute élargie ist Plädoyer für eine offene Hörhaltung, steht aber auch für das entwickelte höranalytische Verfahren – ein Analysewerkzeug, mit dem der Fokus der Analyse erst mit der qualitativen Inhaltsanalyse von autoethnographischen Hörprotokollen herauskristallisiert wird. Damit wird eine innovative Erweiterung zu einer auf strukturorientieren Analytik fokussierenden Musikwissenschaft vorgeschlagen. Die autoethnographische Höranalyse basiert auf dem dafür entwickelten Repeated One Chance Reception Test (ROCRT), bei welchem Hörerlebnisse schriftlich festgehalten werden; diese Hörprotokolle werden anschließend als Grundlage der Analyse benützt. Der ROCRT wird von mir als Forschendem selbst durchgeführt wie auch von weiteren zuhörenden Personen, die Parallelen zu meiner musikalischen Biographie aufweisen. Beim ROCRT spielt aus autoethnographischer Sicht die systematische wie auch interaktive Selbstbeobachtung eine zentrale Rolle: Als Forschender generiere ich selbst Texte in der Art einer écriture automatique, die möglichst unzensiert einerseits während des Hörprozesses, andererseits auch nachträglich entstehen. Auf dieselbe Art verfassen andere Zuhörende dementsprechende Hörprotokolle zur selben Musik, welche meine eigenen Daten erweitern, hinterfragen und ergänzen. Dadurch wird die Selbstbeobachtung während der Auswertung der Hörprotokolle interaktiv. Auf diesem Wege resultieren nicht nur verallgemeinernde intersubjektive Ergebnisse, sondern es wird auch ein für Luc Ferraris Musik adäquater Analyseansatz entwickelt. Die Grundlagen eines solchen Verfahrens sind in medienwissenschaftlichen Aspekten des Musikhörens ab Tonträgern zu finden: Tonträger erlauben eine exakte Wiederholung derselben Musik; Tonträger ermöglichen, die Musik alleine, im privaten Rahmen zu hören; Tonträger lassen ein willkürliches Unterbrechen des Hörerlebnisses erst zu; auch Entscheidungen wie die gewählte Lautstärke liegen bei der zuhörenden Person. Solche Aspekte werden mit dem ROCRT (wie auch in Ferraris künstlerischen Konzepten) thematisiert, mitberücksichtigt: ein erstes unterbrechungsfreies Hörerlebnis kann zum Beispiel besonders prägend sein, ohne dass künstlerische Verfahrensweisen oder zusätzliche Hintergrundinformationen bekannt sind; das wiederholte Hören weckt Interessen einer vertieften Auseinandersetzung mit der Musik; und das Musikhören in den eigenen vier Wänden resultiert in einem spezifischen, einmaligen Hörerlebnis, welches sich dank unzensierter écriture automatique in einem Hörprotokoll widerspiegeln kann. Die vertiefte Betrachtung der medienwissenschaftlichen Aspekte des Musikhörens erlauben denn auch die Herleitung der autoethnographischen Methode des Repeated One Chance Reception Test. Vorangestellt sind zudem – neben einer Aufarbeitung seiner Biographie – Ferraris künstlerische Konzepte wie die Musique anecdotique, das Presque rien oder die Tautologie in den biographischen Kontext gesetzt und vertieft diskutiert. Mit der Auswertung der Hörprotokolle (im vorliegenden Fall fünfzehn) werden Synergien unterschiedlicher Subjektivität genutzt. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse der Hörprotokolle werden werkrelevante Aspekte herausgeschält. Diese kann allerdings wiederum nur über ein erneutes wiederholtes Hören der Musik bewerkstelligt werden, wodurch das Analysieren zum fortwährenden Prozess vorangegangener Hörerlebnisse wird; die Musik verbleibt so gleichsam in ihrem klingenden Moment und entzieht sich quasi einer zeitunabhängigen Objektivierung. Innovativ ist diese Kombination von ‚écriture autoethnographique‘ und qualitativer Inhaltsanalyse deshalb, weil damit die Musik unter gänzlich neuen Gesichtspunkten jenseits herkömmlicher musiktheoretischer Sichtweisen analysiert werden kann, aber auch die musiktheoretische Seite nicht ausschließt. In den Hörprotokollen werden zum Beispiel von Zuhörenden Begrifflichkeiten eingeführt, welche in der Analyse Verwendung finden können, indem sie Ferraris Konzepte vertiefen oder erweitern. Diesen Analyseansatz hätte auch Ferrari begrüßt, betrachtete er zum Beispiel die öffentliche Auseinandersetzung mit rein kompositionstechnischen Aspekten als kontraproduktiv, weil die zuhörende Person dadurch nur versuche, die Kompositionstechnik herauszuhören. Die durchgeführten Analysen beantworten denn auch die folgende zentrale Frage: Wie kann Ferraris Musik vertieft analysiert werden, wenn die als entscheidend eingestufte Rezeption als aktiver Part der Musik miteinbezogen werden soll, und welche Ergebnisse lassen sich daraus folgern? Um diese Fragen zu erörtern, stehen in Ferrari hören die beiden elektroakustischen Werke Les Archives Sauvées des Eaux und Les Arythmiques und deren individuelle Rezeption im Zentrum. Die Auswertungen der Hörprotokolle sind eigentliches Zentrum der Forschungsarbeit; sie fokussieren die Rezeption von Ferraris Musik bis ins Detail. Aspekte der Werkrealisierung und der Spielpraxis ergänzen die Analysen auf produktionsästhetischer Seite und runden so die Untersuchungen ab. Auch diese Analysen wären ohne die vorangegangenen Hörprozesse in einer solchen Form nicht möglich, denn sie gründen ebenso auf dem zuvor entstandenen auditiven Wissen: die Rezeptionsseite ermöglicht erst diese Variante von Produktionsanalyse. Anstelle einer Abgrenzung beider Analyseansätze bleibt die Untersuchung dadurch stets und zwangsläufig mit der Praxis des Musikhörens verbunden. Als Ergebnisse der Untersuchungen von Les Archives Sauvées des Eaux und Les Arythmiques resultieren detailreiche Aufschlüsselungen von werkrelevanten Aspekten wie auch von Ferraris Konzepten. So verhelfen zum Beispiel spezifische Ausdifferenzierungen zwischen para- und supraspektraler Musik sowie zwischen Hörort und Hörbild zu einem erweiterten Werkbegriff; thematisiert werden Intimität in Musik wie auch Sprache als Musik. Die Thematik wird auch interdisziplinär erweitert, unter anderem mit der aus der Erzähltheorie und Heraldik stammenden und bei Ferrari medienspezifisch angelegten Mise en abyme. Écoute élargie ist nicht nur als eine offene Hörhaltung zu verstehen, sondern vor allem als produktives und innovatives Analysewerkzeug zu betrachten – ein Analysewerkzeug, welches offene Formen von Musik berücksichtigen kann wie auch die individuelle Wahrnehmung der zuhörenden Person als relevanten Faktor respektiert. Die Musik kann dadurch an der entscheidenden Schnittstelle zwischen komponierender (respektive realisierender) und zuhörender Person untersucht werden. Diese ersten exemplarischen Studien von Ferraris Les Archives Sauvées des Eaux und Les Arythmiques zeigen das Potenzial von autoethnographischen Höranalysen für zukünftige Forschungen insbesondere im Bereich elektroakustischer Musik. Die Methodik dürfte allerdings auch in anderen Bereichen aktueller Bestrebungen ihr Potenzial haben. Der entscheidende Faktor des Forschungsansatzes liegt grundsätzlich darin, dass der Diskurs über eine Thematik an anderer Stelle fortgeführt wird, als es mit konventionelleren Analysen der Fall ist.
Item Type: |
Doctoral Thesis (Dissertation) |
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Division/Institute: |
Bern Academy of the Arts Bern Academy of the Arts > Institute Interpretation |
Name: |
Badrutt, Gaudenz; Sweers, Britta and Brotbeck, Roman |
Publisher: |
Universität Bern |
Language: |
German |
Submitter: |
Daniel Allenbach |
Date Deposited: |
23 Aug 2023 10:52 |
Last Modified: |
23 Aug 2023 10:52 |
Additional Information: |
Dissertation Graduate School of the Arts (Universität Bern und HKB), verteidigt am 15.09.2020, veröffentlicht auf BORIS am 22.05.2023 |
ARBOR DOI: |
10.24451/arbor.18811 |
URI: |
https://arbor.bfh.ch/id/eprint/18811 |