Die Rezeption von Fétis’ Historisierung der Tonalität

Bacciagaluppi, Claudio (6 September 2021). Die Rezeption von Fétis’ Historisierung der Tonalität In: Narrating Musicology: Fachgeschichte(n) der Musikwissenschaft. Universität Bern. 6.9.2021.

Thomas Christensen hat 2019 ausführlich die Tragweite von Fétis’ Konzept der Tonalität dargestellt, das in seinem Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie (1844) eingehend beschrieben wird. Fétis ging es 1844 primär um die Untermauerung seiner eigenen harmonischen Theorien. Gleichzeitig entwarf er im dritten Buch seines Traktats mit seiner Geschichte der Tonalität in vier Schritten (unitonique vor Monteverdi, transitonique im 17., pluritonique im 18. und omnitonique im 19. Jahrhundert) eine erste genuin historische Skizze der Musiktheorie: Seine Theorie «est en même temps l’histoire des progrès de l’art, et la meilleure analyse des faits qui s’y manifestent» (gleichzeitig die Geschichte der Fortschritte in der Kunst und die beste Analyse der dort erscheinenden Tatsachen). Konsequenterweise sind aber die Traktate vergangener Theoretiker nicht als unzulängliche Versuche, eine immerwährende Musiktheorie zu beschreiben, sondern als vollwertige Bemühungen zu betrachten, das jeweils geltende System zu beschreiben. Eine solche Sicht ermöglicht also eine Geschichte der Musiktheorie, die über eine einfache Aufzählung und Kritik der älteren Traktate hinausgeht. Das Werk des europaweit bekannten Theoretikers und Historikers wurde noch im gleichen Jahr von Emanuele Gambale auf Italienisch übersetzt. Doch gerade seine evolutionistische Begründung und somit der historische Aspekt der Musiktheorie warf hohe Wellen auf: Dass Tonalität eine Geschichte hat, und damit auch das Musikhören und -erleben sich über die Jahrhunderte fundamental verändert haben könnte, bestritten viele vehement. Alberto Mazzucato schrieb beispielsweise 1855 apodiktisch, dass «la tonalità fu, è e sarà sempre una, identica, immutabile» (Tonalität war, ist und wird immer eine sein, identisch, unveränderlich). Abramo Basevi, der Fétis hingegen nahestand, löste das Problem in seiner Introduzione ad un nuovo sistema d’armonia (1862) mit der psychologischen Unterscheidung zwischen «sensazione» (der einfachen Sinneswahrnehmung) und «percezione» (der durch erlernte Vorstellungen beeinflussten Wahrnehmung). Historisch habe sich laut ihm der Anteil an «percezione» ständig vergrössert, was eine immer raffiniertere Handhabung der Dissonanzen ermöglichte. Sein Traktat wurde übrigens auch auf Französisch übersetzt (Introduction à un nouveau système d’harmonie, 1865). Basevis psychologische Entwicklungstheorie wurde in Italien durch Baldassarre Gamucci am Ende des Jahrhunderts wieder aufgenommen.

Item Type:

Conference or Workshop Item (Speech)

Division/Institute:

Bern Academy of the Arts
Bern Academy of the Arts > Institute Interpretation
Bern Academy of the Arts > Institute Interpretation > Music Theory

Name:

Bacciagaluppi, Claudio0000-0003-4376-2809

Subjects:

M Music and Books on Music > M Music

Language:

German

Submitter:

Claudio Bacciagaluppi

Date Deposited:

10 Nov 2021 13:49

Last Modified:

01 Dec 2021 14:26

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URI:

https://arbor.bfh.ch/id/eprint/15657

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