Die Bilder der Pandemie
Seit einem Jahr prägt die Corona-Pandemie unser Leben und dementsprechend ist sie auch in den Medien omnipräsent. Unzählige Bilder führen uns tagtäglich die vielen Facetten der Pandemie vor Augen. Doch warum wird uns genau dieses Foto präsentiert und nicht ein anderes? Welche Auswahlkriterien liegen Pressebildern zugrunde? Und welche Bilder der Krise werden in unseren Köpfen haften bleiben? Diese Fragen erörtert Jann Jenatsch, stv. Geschäftsführer der Presseagentur Keystone-SDA, im nachfolgenden Interview.
HCCD: In seiner Medienkolumne im WDR stellt Christoph Sterz die Frage (auch als Link-Beitrag in unserem Blog publiziert), ob in den Medien die «richtigen» Bilder von der Corona-Krise gezeigt werden. Er stellt fest, dass in Deutschland kaum Bilder aus deutschen Intensivstationen gezeigt würden. Wenn erkrankte oder verstorbene Menschen nicht sichtbar seien, fehle der emotionale Bezug, der die Leute aufrüttelt und sie dazu bringt, ihr Verhalten zu überdenken. Durch die Präsenz von «krasseren» Bildern aus unserer unmittelbaren Umgebung könnten auch Verschwörungsmythen entkräftet werden. Teilen Sie diese Meinung? Wenn ja, trifft dies auch auf die Schweiz zu?
Jann Jenatsch: Die Leserin will nicht bereits beim Morgenkaffee mit Bildern aus der Intensivstation versorgt werden, schliesslich gibt es doch auch positive News, warum muss die Welt denn immer so schrecklich sein? … Damit die Abonnentin nicht abspringt, wird also lieber ein nichtssagendes Symbolbild eingesetzt, zumindest ein Bild, das Hoffnung verspricht: eine spitze Spritze in weichem Licht, sanft und schmerzlos.
Das Misstrauen öffentlicher Institutionen wie Spitälern gegenüber den Medien ist gross. Es geht um Kontrolle, Macht und Geld. Verständlich, dass eine Intensivstation nicht als Symbolbild herhalten will, geht es doch um richtig Kranke, um Leben und Tod. Hier hat Voyeurismus keinen Platz. Entsprechend schwierig gestaltet sich der Zutritt zu Spitälern und deren Intensivstationen.
Der Blick in die Intensivstation lässt vermuten, dass wir dort – mitten im Epizentrum – dem Virus so nahe sind wie nur möglich. Bedient also der Blick durch ein Bullauge in eine Intensivstation (Bild 1) eben diesen Voyeurismus oder verweist diese Perspektive auf die Distanz, die der Betrachter einzuhalten hat? Worin unterscheiden sich Fotos aus dem Inneren einer Intensivstation (Bild 2)? Der Fotograf Anthony Anex beschreibt es so: «Erst als ich die Intensivstation des HFR-Kantonsspitals Freiburg betreten konnte, wurde mir das Ausmass der Pandemie bewusst. Ein junger Mann meines Alters lag im Koma. Maschinen mit Schläuchen in seinem Hals hielten ihn am Leben. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass er wieder gesund wird.» (Pressemitteilung Keystone-SDA vom 08.04.2020: Der Blick auf die Schweiz im Lockdown). Ohne die emotionale Beschreibung des Fotografen oder die entsprechende Einbettung in einen Wahrnehmungszusammenhang bleibt die Intensivstation der Maschinenraum unserer Gesundheit, abstrakt und für die meisten realitätsfremd. Und dennoch ist es unabdingbar, dass es solche Bilder gibt, keine Frage. Doch: Ist nicht der Ambulanzfahrer in Schutzanzug, Maske und Atemgerät (Bild 3) – zuerst noch als Übung, wenig später bereits im Ernstfall – fast noch furchterregender? Der Ambulanzfahrer, der einen Covid-19-Patienten in Biasca zum Transport in ein Spital in seinem Heim abholt (Bild 4), ist ein Bild, das wir bisher nur aus China oder Afrika gesehen haben. Jetzt wird es zur Realität in unserem Alltag.
HCCD: Welchen Selektionskriterien unterliegen Pressebilder, die von Keystone-SDA veröffentlicht werden (abgesehen von der Wahrung der Privatsphäre und Persönlichkeitsrechten von Porträtierten)? Gibt es ethische Grenzen bspw. bei Aufnahmen von toten oder schwer kranken Menschen? In welchen Situationen werden emotionale oder abschreckende Bilder gezeigt, wann eher sachliche oder metaphorische und was sind die Gründe dafür?
Jann Jenatsch: Es geht um Journalismus, Ethik und Wahrnehmung. Welche Rolle nimmt der Fotograf ein? Es geht um eine fotografische Haltung, die sich der journalistisch arbeitende Fotograf verinnerlicht hat, eine Haltung, die es ihm ermöglicht, trotz Betroffenheit und seinem Empfinden der vorgefundenen Realität gegenüber, mit professionellem Selbstverständnis einen Sachverhalt zu zeigen und ihn zu dokumentieren, authentisch und nachvollziehbar. Das Dokumentarische kennt weder Eingrenzung noch Grenzen. Trotz der subjektiven Sicht des Fotografen ist das oberste Gebot die faktische Information, da ist die Toleranz gegenüber (nicht ausgewiesenen) Inszenierungen ebenso klein, wie eine ästhetische Überhöhung. Im Zweifelsfall gilt das Vier-Augen-Prinzip. Der Pressefotograf darf kein Brandstifter sein, seine Aufgabe ist, das Vorgefundene so zu dokumentieren und die Realität so abzubilden, dass bei einer späteren Betrachtung verstanden werden kann, was gewesen ist, unabhängig von den Umständen. Das klingt alles ganz einfach, und doch fordert der Corona-Alltag die Fotografen immer wieder heraus: Wo sind die leichten Momente? Wo sind die zufälligen Begegnungen? Wo ist der Mensch geblieben?
HCCD: Welche Art von Bildern zur Corona-Krise ist Ihrer Meinung nach am populärsten? Welche Bilder werden online am häufigsten angeklickt?
Jann Jenatsch: Die Pandemie ist (bis heute) für viele unwirklich, sie bleibt abstrakt, solange sie sich nicht mit der eigenen Wirklichkeit in Verbindung bringen lässt. Aus diesem Grund haben wir von Anfang an versucht, möglichst viele Aspekte der Pandemie aufzugreifen und den veränderten Alltag in all seinen Facetten sichtbar zu machen. Angefangen hat es mit den ausbleibenden chinesischen Touristen in Luzern (Bild 5). Dann kam die Absage des sich im Aufbau befindenden Genfer Automobilsalons (Bild 6) oder das Aus für die Basler Fasnacht (Bild 7). Beunruhigender war dann die parkierte Swiss-Flotte auf dem Flugplatz Dübendorf (Bild 8) oder die Schliessung der Grenze im Tessin (Bild 9). Und dann verschwand eben auch noch der Mensch: Wo sonst rege Betriebsamkeit herrschte, waren plötzlich keine Menschen mehr zu sehen (Bild 10) …
Zwischen dem 01.02.2020 und dem 01.02.2021 haben die Fotografinnen und Fotografen von Keystone-SDA knapp 55’000 Fotos im Zusammenhang mit dem Coronavirus gemacht. In diesem Zeitraum sind über 18’000 verschiedene Fotos über die Bilddatenbank von Keystone-SDA bezogen worden, eines davon 76-mal (Bild 11). Interessant ist, dass der Betrachter auch auf diesem Foto vor der Türe steht, wie das Bild der Intensivstation durch das Bullauge. Hier ist das Geschehen viel näher. Es ist ein sehr menschliches Bild, das durch seine Einfachheit und Authentizität begeistert.
HCCD: Wenn Sie auf die Corona-Berichterstattung des letzten Jahres zurückblicken: Gibt es aus Ihrer Sicht Bilder, die unpassend waren oder nicht in der Form hätten publiziert werden dürfen?
Jann Jenatsch: Bei dieser Fülle an Bildern hat es bestimmt das eine oder andere, mit dem kein Preis zu gewinnen ist. Die Fotografen sind Chronisten, auch darin liegt ihre Qualität. Die Betrachtung aus der Distanz von zwanzig, dreissig Jahren wird es ihnen danken.
Gerade in Krisenzeiten sind Bilder auch immer eine Plattform für verschiedene Interessengruppen. Hier ist es wichtig, mit bedachter Ausgewogenheit alle Facetten ins Bild zu rücken. Auf der anderen Seite ist es ebenso wichtig, sich für Bilder einzusetzen, die einer bestimmten Interessengruppe nicht passen, und sie vor einer Sperrung oder Löschung zu bewahren. Ich kann es nur wiederholen: Das Dokumentarische darf weder Begrenzungen noch Eingrenzungen kennen.
HCCD: Zum Schluss werfen wir noch einen Blick in die Zukunft: Was denken Sie, welche Bilder von der Corona-Krise werden im Gedächtnis der Allgemeinheit haften bleiben? Welche ikonischen Bilder gibt es, die dieser Krise für lange Zeit ein Gesicht geben werden?
Jann Jenatsch: Ich möchte nur ein Bild herausgreifen (Bild 12): Da sitzen der Bundesrat Alain Berset und Daniel Koch in einem Café und gönnen sich eine Pause. Dieses Bild macht die Coronavirus-Pandemie ein wenig fassbarer, es gibt ihr ein menschliches Antlitz.
Jann Jenatsch (*1962) ist seit 2018 stv. Geschäftsführer der fusionierten Keystone-SDA, gleichzeitig hat er die publizistische Leitung der nationalen, multimedialen Nachrichtenagentur inne. Zuvor leitete er seit 2008 die Bildagentur Keystone als deren CEO. Angefangen hat Jenatsch als sogenannter Sandwich-Boy bei Keystone im Jahr 1986, während des Architekturstudiums an der ETH, wo er 1991 diplomierte. Er ist verheiratet und wohnt in Zürich.
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