Blogbeitrag von Prof. Dr. Emanuela Chiapparini, Soziale Arbeit, Berner Fachhochschule
Armutsbetroffene Personen sollen an Massnahmen der Armutsbekämpfung und damit an Entscheidungen oder Angelegenheiten, welche ihr eigenes Leben betreffen, mitwirken, und die Massnahmen mitentwickeln und umsetzen können. Zu diesem Schluss kam das nationale Programm gegen Armut, das für die Laufzeit 2019-24 das Schwerpunktthema «Partizipation» von armutsbetroffenen und -gefährdeten Personen gewählt hat.
In einer Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) hat ein Forschungsteam aus mehreren Hochschulen Möglichkeiten der Mitwirkung von armutsbetroffenen Personen an Massnahmen der Armutsbekämpfung identifiziert, Wirkungspotentiale aufgezeigt und Voraussetzungen für die Umsetzung beschrieben (Chiapparini et al. 2020). Der primäre Fokus dieser Studie ist auf armutsbetroffene Erwachsene gesetzt, wobei die Befunde unter bestimmten Rahmenbedingungen ebenso für armutsbetroffene Kinder und Jugendlichen zutreffen.
Möglichkeiten
Es bestehen zahlreiche Möglichkeiten, wie sich armutsbetroffene Personen in Handlungs- und Politikfelder der Armutsbekämpfung einbringen können:
- In der Entwicklung oder Weiterentwicklung von Organisationen: z.B. Arbeitsgremium in der Sozialhilfe Biel
- In der Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen: z.B. MSc-Modul zur Zusammenarbeit von Fachpersonen Sozialer Arbeit und Erfahrungsexperten zum Thema Armut, Berner Fachhochschule
- In der Entwicklung oder Weiterentwicklung von politischen und rechtlichen Grundlagen: z.B. Durchführung von Workshops mit armutsbetroffenen Personen in Grossbritannien im Rahmen der Entwicklung des nationalen Aktionsplans gegen Armut
- In öffentlichen und politischen Diskursen: z.B. Veranstaltungen zum Thema Armut organisiert durch die Sozialkonferenz Basel
- In der Entwicklung oder Weiterentwicklung von Strukturen zur Selbsthilfe: z.B. Internetcafés, die teilweise selbstorganisiert oder in Co-Leitung in Basel, Winterthur und Zürich geführt werden
- In der Entwicklung von Grundlagen der Beteiligung: z.B. Mitarbeit von Betroffenen in der Arbeitsgruppe GANZ in Bern, um die Praxishilfe mit dem Titel «Wenn ihr mich fragt… – Das Wissen und die Erfahrung von Betroffenen einbeziehen» zu entwickeln
Wirkungen
Die Praxis zeigt auf vielfältige, positive Wirkungen hin. Anhand der Befunde aus einer Studie zum Arbeitsgremium in der Sozialhilfe Biel werden zentrale Wirkungen umschrieben und veranschaulicht:
Die unmittelbaren Wahrnehmungen und Beurteilungen der armutsbetroffenen Personen werden ermöglicht und stehen im Zentrum von partizipativen Arbeitsgremien. Weiter wird auf blinde Punkte hingewiesen, worüber beispielsweise die Fachpersonen eines Sozialdienstes selbst überrascht waren, oder diese in der unmittelbaren Weise nicht gesehen und aufgenommen haben:
«Die Sozialhilfeempfangenden erweiterten mir den Blick – durch den gemeinsamen Austausch sind wir auf Ideen gekommen, auf die ich mit meinen Kolleginnen alleine nicht gekommen wäre.»
Chiapparini 2021 LeGes S. 8
Indem die Fachpersonen ihr Verhalten reflektieren und einen Austausch auf Augenhöhe ermöglichen, können Optimierungen in Strukturen und Prozesse erkannt werden.
Weiter wird der Zusammenhalt der verschiedenen Personengruppen gestärkt. Die armutsbetroffenen Personen erhalten die Möglichkeit, öffentlich zu reden, was sie oft aus ihrer sozialen Isolation befreit:
«Man verliert die Sprache, wenn man armutsbetroffen ist»
Schuwey/Chiapparini 2020
Zudem weisen einzelne armutsbetroffene Personen in der Studie eine anfängliche und grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber den Fachpersonen Soziale Arbeit auf, die sich aber durch die Zusammenarbeit in eine Akzeptanz wandelt und zu einer Ablegung von Missverständnissen führt. Zudem wagen sich die Sozialhilfeempfangende, sich an demokratischen und gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Schliesslich haben die getroffenen Entscheidungen und die erzielten Resultate durch die gemeinsame Evaluation erheblich an Legitimation und Glaubwürdigkeit gewonnen.
Voraussetzungen
Da in der Gestaltung und Umsetzung der Mitwirkung von armutsbetroffenen Personen viele Spielräume möglich sind, können die oben genannten Wirkungen nur unter bestimmten Voraussetzungen erreicht werden. Deshalb ist es wichtig, um eine Scheinbeteiligung zu vermeiden, bei jedem Projekt situationsbedingt folgende Dimensionen von Beteiligung zu besprechen und festzuhalten:
- Gegenstand: Woran können sich die armutsbetroffenen Personen beteiligen?
- Zeithorizont und strukturelle Einbettung der Partizipation: Während welchem Zeitraum, wie oft und wo können sie sich beteiligen?
- Projektverantwortung: Wer übernimmt die Projektverantwortung? Ist eine Co-Leitung von Betroffenen und Vertretenden einer Institution vorgesehen, oder wird es nur von den betroffenen Personen oder nur von Vertretenden der Institution geleitet?
- Intensität der Partizipation: Geben die armutsbetroffenen Personen ihre Meinung kund (Konsultation)? Erarbeiten sie ein Projekt mit den Vertretenden einer Institution, wobei letztere Personengruppe die Entscheidungsbefugnis hat (Co-Konstruktion)? Wird eine Mitentscheidung ermöglicht?
- Übergeordnete Ziele der Partizipation: Sollen beispielsweise Organisationsstrukturen und -prozesse bewertet werden, oder professionelle Praktiken? Sollen Verbesserungs-/Lösungsvorschläge erarbeitet werden? Soll den armutsbetroffenen Personen ermöglicht werden, durch eine Anstellung die Vorschläge gleich umzusetzen?
- Staatsebene bzw. Verortung: Welche Reichweite hat das Projekt (kommunal/lokal, kantonal/regional, national)?
Fazit
Es lohnt sich in vielerlei Hinsicht – gemäss den skizzierten Befunden – armutsbetroffenen Personen die Möglichkeit zu geben, sich an Massnahmen der Armutsbekämpfung zu beteiligen. Ergänzend zu den vorgestellten Möglichkeiten, Wirkungen und Voraussetzungen sind diese mit Blick auf armutsbetroffener und -gefährdeter Kinder und Jugendliche an deren altersspezifischen Kontexten und Bedürfnisse anzupassen und zu justieren. Diese zusätzliche Arbeit ist nötig, um armutsbetroffene und -gefährdete Kinder und Jugendliche tatsächlich zu erreichen und um Alibi-Übungen in gesellschaftlichen und politischen Beteiligungsprozessen zu meiden.
Literaturverzeichnis
Chiapparini, Emanuela; Schuwey, Claudia; Beyeler, Michelle; Reynaud, Caroline; Guerry, Sophie; Blanchet, Nathalie; Lucas, Barbara (2020): Modelle der Partizipation armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung und -prävention. Forschungsbericht Nr. 7/20. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV). Online verfügbar unter https://arbor.bfh.ch/11878/1/2020%20BSV%20Modelle%20der%20Partizipation.pdf.
Chiapparini, Emanuela (2021 (im Druck)): Armutsbetroffene und -gefährdete Personen evaluieren partizipative Massanahmen und Projekten der Armutspolitik. Chancen und Voraussetzungen partizipativer Evaluation. In: LeGes.
Schuwey, Claudia; Chiapparini, Emanuela (2020): „Im wahren Leben funktioniert vieles anders als in der Theorie“. In: impuls (3), S. 26–29. Online verfügbar unter https://arbor.bfh.ch/12306/.
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