Der Tradition folgend
Infografiken sind in Zeiten der Corona-Pandemie allgegenwärtig. Sie übersetzen komplexe Informationen und Daten in Bilder und machen Themen wie die Ausbreitung des Virus, Fallzahlen usw. der Öffentlichkeit zugänglich. Das Themenfeld Krankheit und deren Verlauf sowie dessen Mortalität war in der Geschichte der Infografik schon immer von grosser Relevanz. In diesem ersten Essay zum Thema Infografiken werden einige historische Beispiele vorgestellt und gewürdigt – als Auftakt zu einer Reihe, die sich zeitgenössischen Infografiken und ihren aktuellen Herausforderungen und Möglichkeiten widmet.
John Snow (1813–1858) war ein britischer Arzt und ein Pionier bei der epidemiologischen Erforschung der Cholera. Er konnte um 1854 nachweisen, dass die damals herrschende Choleraepidemie in London durch verseuchtes Trinkwasser verursacht worden war. Die in einer Karte aufgezeichneten Todesfälle zeigten eine Konzentration im Bereich einer Wasserpumpe in der Broad Street. Nachdem er diese Pumpe ausser Betrieb setzte, kam es zum Stillstand der Epidemie. Die nach ihm benannte Snowmap gilt als eine der ersten räumlichen Analysen eines Krankheitsausbruchs. (Diese Infografik wird auch im Blogbeitrag Plague Inc. – Designing Virtual Pandemics von Arno Görgen vorgestellt.)
Variante einer im Original von John Snow gezeichneten Karte (Quelle unbekannt)
Florence Nightingale (1820–1910) war britische Krankenschwester und Statistikerin und kann als eine Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege bezeichnet werden. In ihrem Polar-Area-Diagramm stellte sie die Todesursachen während des Krimkriegs (1853–1856) dar. Die Visualisierung zeigt auf eindrückliche Weise, dass – aufgrund mangelnder Hygiene – die Infektionskrankheiten den Hauptanteil der Mortalität ausmachten. Mit ihrem grossen Einfluss konnte sie politischen Druck ausüben, um das britische Sanitätswesen nachhaltig zu reformieren.
Polar-Area-Diagramm: Blaugrau: an Infektionskrankheiten Verstorbene, Rot: an Verwundungen Verstorbene, Schwarz: andere Todesursachen; Quelle: Notes on Matters Affecting the Health, Efficiency and Hospital Administration of the British Army, 1858
Charles Joseph Minard (1781–1870) war ein französischer Bauingenieur, der wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Infografiken leistete. Seine bekannteste Arbeit ist die im Jahre 1869 veröffentlichte Visualisierung zum verheerenden Russlandfeldzug Napoleons von 1812/1813. Die von Edward Tufte als «vermutlich beste Infografik aller Zeiten» bezeichnet, erzählt mit multivariablen Daten eine komplexe und kohärente Geschichte. Die Variablen stellen die Grösse der Armee (Verlust an Soldaten), ihre geografische Verortung (Truppenbewegungen) und die Temperaturen im Laufe von Napoleons Russlandfeldzugs dar. Sie stellt eine der Grundlagen heutiger Kartendarstellungen im Zeitverlauf dar. (Vertiefte Auseinandersetzungen mit der Karte sind u.a. auf der Website von Edward Tufte zu finden.)
Minards Visualisierung des Russlandfeldzugs, Lithografie 62 x 30 cm, 1869
Fritz Kahn (1888–1968) war ein Berliner Arzt und populärwissenschaftlicher Autor, der Bau und Funktionsweise des menschlichen Körpers auf einzigartige Weise veranschaulichte. Sein Hauptwerk «Das Leben des Menschen» (1922–1931) begeisterte nicht nur Laien, sondern auch Wissenschaftler durch seine visuellen Analogien und Metaphern, die aussergewöhnlich ausdrucksstark und zeitgemäss gestaltet waren. Kahn beabsichtigte durch die Schautafeln wissenschaftliche Tatsachen anschaulich darzustellen, wobei er sich des Spannungsverhältnisses von Wissenschaftlichkeit und Verständlichkeit bewusst war. Der Fokus von Kahn war die Vermittlung des Verständnisses von komplexen Sachverhalten und weniger die absolut wissenschaftliche Wahrheit. Seine Bilder und Schautafeln überzeugen und überraschen noch heute, vor allem seine visuelle Metapher «Der Mensch als Industriepalast».
Detail der Lehrtafel «Der Mensch als Industriepalast», 1926, © Kosmos Verlag
Marie Neurath (1898–1986) war eine deutsche Illustratorin. Der Name Isotype (International System of Typographic Picture Education) wird zumeist mit Otto Neurath – ihrem Ehemann – und Gerd Arntz in Verbindung gebracht, doch es war insbesondere Marie Neurath, die für die zeitgenössische und aktuelle Popularität der Zeichensprache verantwortlich war. Isotype, eine frühe Form der Infografik, wurde entwickelt, um den Laien wissenschaftliche Zusammenhänge verständlich zu machen. Diese Bildpädagogik basiert auf einer Enzyklopädie von Piktogrammen und inspiriert noch heute viele Gestalter*innen wie beispielsweise die Agentur Integral Ruedi Baur, die die visuelle Sprache der zeitgenössischen, europäischen Kunstbiennale Manifesta 11 in Zürich entwickelt hat.
Lepra, Plakat, 1955, Isotype Collection, Universität Reading
Philippe Rekacewicz (*1960) ist französischer Kartograf und Journalist und publiziert regelmässig in Le Monde diplomatique und im Atlas der Globalisierung. Seine handgezeichneten polit- und wirtschaftsgeografischen Karten bewegen sich in den Themen von Migration, Flucht und Umsiedlung sowie auch zu gesundheitspolitischen Aspekten. Die soziokartografische Arbeit zeigt die Beziehung zwischen Kartografie, Kunst und Politik und geht den Fragen nach, wie Kunst zur Entstehung von Karten beiträgt oder wie Karten zu politischen und Propagandazwecken genutzt und missbraucht werden können. Die Karte «Mourir aux portes de l’Europe» dokumentiert die Position des alten Kontinents gegenüber der Migration, insbesondere auf der Grundlage von Sterblichkeitszahlen.
Mourir aux portes de l’Europe, 2013
Prof. Dr. Dirk Brockmann (*1969) ist theoretischer Physiker und Komplexitätsforscher an der Humboldt-Universität Berlin. Er und seine Projektgruppe haben eine mathematische Theorie vorgestellt, die das Verständnis globaler Seuchenausbreitung verbessern soll. Die Ausbreitung einer im Computer simulierten, von Hongkong ausgehenden Epidemie wurde in zwei verschiedenen Visualisierungen dargestellt. In der geografischen Darstellung lässt sich kein Muster erkennen. Stellt man die scheinbar erratische Ausbreitung jedoch als Funktion einer «effektiven Distanz» (Reiseströmungen des Flugverkehrsnetzes) dar, kommt ein wellenförmiges Verhalten zum Vorschein.
Wellenförmige Ausbreitung einer simulierten Seuche in zwei verschiedenen Visualisierungen
Quelle: Dirk Brockmann, Humboldt-Universität Berlin, 2013
Ausblick
In der Zeit der Coronakrise haben Infografiken Hochkonjunktur, die die komplexen Relationen «auf einen Blick» erkennbar und strukturelle Zusammenhänge erfassbar machen wollen – mittels statischer Visualisierungen sowie als interaktive, oft in Echtzeit erstellte Diagramme, Kartendarstellungen und Simulationen. Die Website Coronavirus Tech Handbook – Infographics listet thematisch geordnet eine aktuelle umfangreiche Sammlung von Infografiken auf.
Infografiken entwickeln sich weiter. Die Anforderungen und die Komplexität nehmen zu, sodass immer mehr auch der Datenjournalismus und das Storytelling an Bedeutung gewinnen. Spannend wird zu beobachten sein, ob die zusätzlichen technischen Möglichkeiten hierbei auch die Qualität und Lesbarkeit der Infografiken in diesem Masse verbessern werden.
Nach dieser historischen Einführung werden wir in den nächsten Wochen verschiedene Perspektiven und Positionen der zeitgenössischen Infografiken zur Corona-Pandemie beleuchten und kommentieren.