Nobody expects the Spanish flu! – Die von der Populärkultur vergessene Epidemie

Die Strassen von Whitechapel waren menschenleer, ebenso wie die Strassen in den Londoner Docks und Southwark. Die Türen der Häuser waren abgesperrt, die Fenster teilweise mit Brettern zugenagelt. Viele Häuser schienen überhaupt verlassen. Polizisten sah man fast keine, vereinzelt dafür düstere Gestalten. Nur in den Gängen des Pembroke Hospital herrschte rund um die Uhr reges Treiben. Vor dem Krankenhaus war aufgrund der ausgebrochenen Seuche ein zusätzliches Zeltlager errichtet worden, nachdem die Krankenbetten alle belegt waren. Die Stimmung der Belegschaft war düster.

Noch vor zwei Jahren, als ich die beschriebene Situation im Computerspiel Vampyr erlebt hatte, erschien sie ebenso wie das restliche Setting – London 1918 zu Zeiten der Spanischen Grippe sowie ein jahrhundertealter Krieg eines Geheimbundes gegen Vampire – rein fiktional. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, hier einen direkten Bezug zu meiner Alltagswelt zu suchen. Am ehesten noch liess sich das Spiel als eine Metapher auf eine aktuell sich wieder vergrössernde Arm-Reich-Schere lesen. Selbst die eindeutige historische Verortung des Spiels, die zum Beispiel durch eine möglichst realistische historische Architektur und Kleidung, sowie durch die Verwendung historischer Flugblätter stattgefunden hat, änderte nichts an der Tatsache, dass ich mir ständig dessen bewusst war, in eine fiktionale Welt einzutauchen.

Screenshot aus dem Spiel Vampyr (Dontnod F 2018) via Twitter

Zwei Jahre später lässt sich das Spiel nur noch im direkten Bezug zur Corona-Krise erfahren. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht hat sich hier eine interessante Verschiebung der Perzeptionsperspektive ergeben, die sich auch bei anderen Medien finden lässt. Nicht umsonst wird gerade wieder intensiv Camus‘ „Die Pest“ gelesen, Filme wie Soderberghs „Contagion“ haben Hochkonjunktur.

Original Spanish Flu Poster (2018) via British Society of Immunology

Heute muss es uns so scheinen, als ob das World-Building im Spiel mittels einer ubiquitär sicht- und erfahrbaren Gesundheitspolitik – öffentliche Plakate und Flugzettel mit Hinweisen zum richtigen Verhalten während der Epidemie (Händewaschen, nicht in der Öffentlichkeit husten, öffentliche Verkehrsmittel meiden, sich selbst Gesichtsmasken nähen) – ein direkter Verweis auf unsere aktuellen Erfahrungen sei. Das gilt aber allgemein für die ästhetische Atmosphäre und auch das Narrativ des Spiels: Die menschenleeren Strassen Londons. Der Umstand, dass die Seuche die rumänischen Immigrant*innen in Whitechapel weitaus härter trifft, als die Upper Class der Westside und schliesslich der zynische Vorschlag eines wohlhabenden Londoner, eine Mauer um das Reichenviertel zu bauen, um sich vor Infektionen durch die ärmere Bevölkerungsschicht zu schützen.

Screenshot aus dem Spiel Vampyr (Dontnod F 2018) via Gamersnyde.com

Die Verschwörung eines von Geheimbünden kontrollierten Schattenstaates als (wahrgenommene) Ursache eines gesundheitspolitischen Versagens. All das wirkt nun, zwei Jahre später geradezu unangenehm aktuell. Auch die Geschichte des Protagonisten Dr. Jonathan Reid, eines schneidigen jungen Arztes mit Weltkriegstrauma, der ungewollt zum Vampir wurde und nun nach einem Heilmittel für eine mutierte Grippe sucht, erhält aus heutiger Sicht eine ganz andere Konnotation.

Es ist naturgemäss Unsinn, nun ein Spiel aus dem Jahr 2018 zu einer klarsichtigen Vorhersage der aktuellen Pandemie umzudeuten. Tatsächlich hatten die Entwickler*innen vermutlich die Spanische Grippe vor allem deshalb als Setting genommen, weil sie gleichzeitig spektakulär, weit entfernt und fast vergessen eine Antithese unseres sicher geglaubten Alltages schien. Eventuell spielte auch ein ganz prosaischer Grund hier mit: die Grippe erlaubte menschenleere Strassen, was weniger Programmieraufwand bedeutete als belebte Strassen. Warum also überhaupt über das Spiel sprechen? Nun, zum einen ist Vampyr eine gute Erinnerung an uns Forscher*innen, dass wir immer unseren Forschungsobjekten mit einem riesigen Gepäck an eigenen Erfahrungen und Weltbildern begegnen. Deswegen gilt es immer vorsichtig in unseren Schlüssen zu bleiben. Zum anderen: Lesarten ändern sich. Das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem kann sich sowohl jederzeit in der Produktion wie auch in der Rezeption verschieben. Was gestern noch als Metapher erschien, wird heute wortwörtlich interpretiert.

Screenshot aus dem Spiel Vampyr (Dontnod F 2018) via Twitter

Schliesslich ist das Spiel auch ein interessantes Indiz für das (Nicht-)Funktionieren unseres kollektiven Gedächtnisses. Gerade der Umstand, dass es sich hier um ein eindeutig exotisches historisches Setting handelt, ist Hinweis darauf, dass die Spanische Grippe bisher nur wenig erinnert wird, obwohl sie in den Jahren 1918/1919 weltweit unglaubliche 27-50 Millionen Tote zur Folge hatte. Diese Beobachtung trifft auch Laura

Spinney im Abschluss ihrer Monographie «Pale Rider: The Spanish Flu of 1918 and How It Changed the World». Das Vergessen gilt nämlich nicht nur für digitale Spiele, sondern allgemein für die Malerei, Romane, Filme und Fernsehserien. Abgesehen von einem Handlungsstrang der extrem erfolgreichen Fernsehserie „Downton Abbey“ finden sich keine erfolgreichen Beispiele für das vergangene Jahrhundert. Krankheiten wie die ebenfalls höchst schadvolle Tuberkulose oder auch die Pocken oder die Pest nahmen hier lange prominentere Stellungen ein.

Insofern darf es uns auch nicht überraschen, dass uns so viele Aspekte der Pandemie und der von uns gesetzten Eindämmungsversuche unvertraut, ja manchmal geradezu verstörend erscheinen, obwohl zwei bis drei Generationen vor uns unsere Vorfahren vergleichbare Erfahrungen gemacht haben dürften: Ausgangsbeschränkungen bis hin zur Quarantäne, verpflichtendem Mund- und Nasenschutz, das diffuse Gefühl der Unsicherheit.

Screenshot aus dem Spiel Vampyr via Twitter (Dontnod F 2018)

Was von Pandemien in unserem kollektiven Gedächtnis bleibt, sind meist nur oberflächliche Verweise, die zudem ungewollt xenophoben Einstellungen Schützenhilfe geben, weil sie Invasions- und Verschwörungsnarrative instrumentalisieren, bei denen unsere kleinen geschützten Welten durch Zombies oder andere «pathologische» Entitäten unterminiert werden. Laura Spinney schreibt dazu: «Intriguingly, post-viral fatigue leaves more of a trace than the flu itself, as if writers had mistaken the disease for the metaphor, and been tricked into giving it a proper treatment.» Die Erinnerung versandet, das Zeichen selbst überlebt den Wandel der Zeit, um sich selbst stetig zu wandeln.

Das Spiel Vampyr ist auch deshalb eine für uns spannende Quelle, weil es sich einer – sonst in der Populärkultur – quasi vergessenen Pandemie angenommen hatte.

Die Frage warum gewisse Krankheiten wie die Pest und die Tuberkulose es in den epidemischen Kanon unserer (Populär-)Kultur geschafft haben und andere – wie die Spanische Grippe – nicht, können wir an dieser Stelle noch nicht zufriedenstellend beantworten, sie wird uns in nachfolgenden Blogbeiträgen beschäftigen.

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Eugen Pfister

Eugen Pfister leitet das SNF-Ambizione-Forschungsprojekt "Horror-Game-Politics" an der Hochschule der Künste Bern - HKB. Er forscht zu digitalen Spielen als historische Quellen (spielkult.hypotheses.org).

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1 Response

  1. 30/07/2020

    […] in aller Deutlichkeit. Damit die historische Besonderheit des Moments nicht wie zuvor die Erfahrungen unserer Vorfahr*innen während der Spanischen Grippe dem Vergessen anheimfällt, haben unterschiedliche museale und wissenschaftliche Akteure – vor allem aus dem Bereich der […]

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