Datengetriebener Journalismus

Im dritten Teil dieser Blogreihe zu Infografiken haben wir mit Hendrik Lehmann vom Tagesspiegel gesprochen und erläutern, wie das Tagesspiegel Innovation Lab arbeitet und datengetriebenen Journalismus versteht: Interaktive Grafiken, Datenanalysen, Crowdrecherchen, besondere Longreads und Visual Stories sind ihr Metier. 

Der in Berlin ansässige Tagesspiegel initiierte im Januar 2019 das Tagesspiegel Innovation Lab, um seine multimedialen Formate weiter auszubauen und das journalistische Kerngeschäft kanalübergreifend zu stärken. Das Lab recherchiert themenübergreifend und entwickelt neue Erzählformate, die das Potenzial von Journalismus im Netz noch stärker nutzen sollen.

Das Team des Tagesspiegel Innovation Labs (von links nach rechts): David Meidinger, Hendrik Lehmann, Andreas Baum, Michael Gegg und Helena Wittlich; Foto: Kitty Kleist-Heinrich

Seit der Gründung leitet Hendrik Lehmann* das Tagesspiegel Innovation Lab, das interdisziplinär aufgestellt ist – eine Wissenschaftsjournalistin und zwei Physiker entwickeln gemeinsam mit dem Soziologen Lehmann neue interaktive Reportagen, auch um die Reichweite des Tagesspiegels sowie die Scrolltiefe und Verweilzeit ihrer Leserschaft zu vergrössern. Das Thema bestimmt die Erzählform und die verwendeten Medien, betont Lehmann. Das Team will auf diese Weise offene Erzählweisen und neue Technologien ausloten. Bemerkenswert ist, dass das Tagesspiegel Innovation Lab ein eigenes Ressort innerhalb der Tageszeitung bildet und direkt der Chefredaktion unterstellt ist. Lehmann betont, dass sie dadurch nicht eine reine Zulieferfunktion innehaben, sondern Themen auch selber wählen und priorisieren können. Die Zusammenarbeit mit den anderen Ressorts erfolgt dann projektbezogen. Ihr Ziel sei es, durch die interaktiven Formate ein noch differenzierteres Bild von komplexen Themen vermitteln zu können.

Das Lab trifft sich dreimal wöchentlich zu einer Teamsitzung, um in einer digitalen Blattschau visuelle und datengetriebene Beispiele aus aller Welt – New York Times, Washington Post, Financial Times, Zeit, Süddeutsche Zeitung usw. – einander vorzustellen und zu diskutieren. Für Lehmann ist dieser Austausch wichtig für die eigene Inspiration und vor allem auch für das regelmässige Reflektieren von aktuellen Positionen in Datenjournalismus und Storytelling. Dieser Datenspiegel ist nicht nur für internen Gebrauch, sondern wird regelmässig auf ihrer Website publiziert und öffentlich zugänglich gemacht. Aktuelle Beispielsammlungen zu Covid-19 sind Woher das neue Coronavirus kommt, Die besten Erklärstücke zum Coronavirus weltweit, Die besten neuen Erklärstücke zum Coronavirus, Mit diesen internationalen Coronavirus-Artikeln verstehen wir, was auf uns zukommt, Wo sich das Coronavirus inzwischen am schnellsten ausbreitet.

Datenspiegel «Die besten Erklärstücke zum Coronavirus weltweit»

Das Tagesspiegel Innovation Lab sieht sich selber auch in der Rolle eines Kurators in der Datengesellschaft. Lehmann erwähnt in diesem Zusammenhang die Crowdrecherche, eine digitale Methode der Recherche. In dieser Langzeitrecherche werden die Lesenden aufgefordert, aktiv Daten zu erheben. Das Beispiel der umfangreichen Umfrage zu «Wem gehört Berlin?» zeigte das rege Interesse der Leserschaft, diese Aufforderung zur Interaktion wahrzunehmen. Es entstanden daraus mehrere Geschichten, die auf unterschiedliche Art und Weise erzählt werden konnten – wie beispielsweise Wer profitiert vom Berliner Mietmarkt, Gehört meine Wohnung Berlins größten Eigentümern? oder Wem gehört(e) der Boxi?

Selbstverständlich arbeitet das Tagesspiegel Innovation Lab während der Zeit der Corona-Pandemie im Home-Office. Die Umstellung der Arbeitsform in der «ersten globalen Krise im digitalen Zeitalter», so Lehmann, war einfach, da alle Mitarbeitenden sehr technologie-affin sind. Zudem gebe es weniger Meetings, was die Arbeitseffizienz steigern würde. Die Nachfrage nach interaktiven Reportagen sei höher denn je. Sie seien dadurch gezwungen, die Schnelligkeit hochzuhalten, ohne die Präzision – also die wissenschaftliche Kontextualisierung – zu vernachlässigen.

Während der Corona-Pandemie ist das Leserbedürfnis nach Informationen sehr gross – die Erzähl- und die Erklärformate dennoch sehr unterschiedlich. So werden beispielsweise die Corona-Fälle weltweit in Echtzeit kommuniziert und die wichtigsten Zahlen publiziert. In einem anderen Beispiel wird visualisiert, wie durch die Corona-Krise der Verkehr in den Grossstädten drastisch abgenommen hat. Ein eindrückliches Beispiel ist das Erklärstück, wie sich das Coronavirus ausgebreitet hat. Der Weg des Coronavirus 2019-nCoV wird mittels scrollgesteuerten Texten und mit interaktiven Karten beschrieben und erklärt. Diese Vermittlungsform ermöglicht es, die Chronologie und die unterschiedlichen Massstäbe des Kartenmaterials synoptisch darzustellen. Die Lesenden können ihr Lesetempo selbst bestimmen und in die Materie eintauchen.

Der Ursprung von Corona: Screenshots aus einem Beitrag, der zeigt, wie sich das neue Coronavirus von Wuhan aus verbreitet hat

Durch die Corona-Krise haben sich für das Tagesspiegel Innovation Lab einige Darstellungsarten verändert. So wird beispielsweise die Deutschlandkarte aller Coronavirus-Fälle regelmässig aktualisiert sowie neue Inhalte generiert. Der Beitrag ist also, wie sonst üblich, nicht abgeschlossen. Er wird kontinuierlich weiterentwickelt – Tagesaktualitäten und neue Erkenntnisse werden eingepflegt, sodass diese Seite regelmässig besucht und zum Corona-Nachschlagewerk wird.

Coronavirus Live: Alle Corona-Fälle in den Landkreisen, Bundesländern und weltweit

Abschliessend vermutet Hendrik Lehmann, dass die Corona-Krise zumindest diesen positiven Effekt haben wird: Die Leserinnen und Leser sind nun geübter im Lesen von Datenvisualisierungen als vorher – und kritischer.

Im nächsten Blogbeitrag werden wir beleuchten, wie traditionelle Infografiken zum Schauplatz parodistischer Äusserungen werden und wie – vor allem in den Social Media Kanälen – mit humoristischer Ausdrucksweise auf die Corona-Pandemie reagiert wird.


Hendrik Lehmann leitet das Tagesspiegel Innovation Lab, das neue digitale Erzählweisen und interaktive Anwendungen entwickelt, oft auf Basis von Datenanalysen. Das Lab besteht aus Entwicklern und Journalist*innen und kooperiert oft mit Universitäten, Startups oder Kunstschaffenden. Lehmann ist unter anderem Träger des Deutschen Reporterpreises 2018 und 2019 und des Data Journalism Awards 2019. Er hat Politik an der FU Berlin und Urbane Soziologie am Goldsmiths College London studiert.


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Jimmy Schmid

Prof. Jimmy Schmid is a professor of Communication Design, head of the MAS studies Signaletics - Environmental Communication Design and senior researcher at the Bern University of the Arts (HKB).

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1 Response

  1. 22/12/2020

    […] Sie auch folgende Artikel auf diesem Blog zum Thema Datenjournalismus:Datengetriebener JournalismusDatenjournalismus – Made in […]

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