Popcorn im Waschbecken oder Piktogramme lesbar gestalten
Während der Corona-Pandemie werden Piktogramme aufgrund ihrer Einfachheit und breiten Verständlichkeit häufig genutzt, um Hygienemassnahmen und Verhaltensregeln zu vermitteln. Dazu bedarf es auch vieler neuer Bildzeichen. Designagenturen reagieren auf dieses Bedürfnis und erstellen spezielle Corona-Piktogramm-Sets. Piktogramme lesbar zu gestalten ist aber je nach darzustellendem Begriff eine herausfordernde Aufgabe.
Dass Piktogramme nicht immer eindeutig verständlich sind, zeigt das folgende Beispiel. In einer Studie zur Kommunikation von Pflegefachpersonen mit fremdsprachigen Kinderpatient*innen [1] erwähnte eine Studienteilnehmerin, dass auf ihrer Abteilung in einem Kinderspital u. a. Piktogramme verwendet werden, um Sprachbarrieren zu überwinden. Dabei erzählte sie folgende Anekdote: Bettlägerige Patient*innen werden im Spital mithilfe von Waschschüsseln gewaschen. Diese Pflegehandlung kann den Patient*innen sprachunabhängig durch ein Piktogramm, das eine Waschschüssel voller Schaum darstellt, vermittelt werden (Abb.1). Das Zeichen wurde aber offenbar von Kindern auch missverstanden: die aufgehäuften Schaumbläschen wurden als Popcorn in einer Schüssel interpretiert.
Dieses Beispiel zeigt, dass Piktogramme – entgegen der Erwartung an deren universelle Verständlichkeit – nicht immer eindeutig zu verstehen sind. Sie werden immer vom Standpunkt des Betrachtenden heraus interpretiert. In diesem Fall liegt die Popcornschüssel der Lebenswelt der Kinder wohl näher als die Waschschüssel.
Die Maxime der Einfachheit
Der wichtigste Faktor beim Design eines Piktogramms ist die Eindeutigkeit und Verständlichkeit des Bildinhalts für eine grösstmögliche Nutzergruppe. Die Gestaltung von Piktogrammen folgt der Maxime der Einfachheit, indem das Augenmerk auf Funktionalität
und Lesbarkeit liegt und unnötige Details weggelassen werden. Jedes Detail verlangsamt potentiell die Rezeptionsgeschwindigkeit und kann die Interpretation in eine unbeabsichtigte Richtung lenken [2]. Die Darstellung wird auf die wesentlichen typischen Merkmale eines Gegenstandes oder einer Handlung reduziert. Je generischer das dargestellte Objekt ist, desto grösser ist die Chance, dass der Inhalt von einer möglichst grossen Zielgruppe verstanden wird.
Corona-Piktogramme
Da durch die aktuelle Pandemie neue Inhalte in grosser Dringlichkeit zu vermitteln sind, reagieren auch Designagenturen auf Covid-19, indem sie Piktogramme zur Unterstützung der Kommunikation entwickeln. Zurzeit tauchen im Internet viele (z. T. frei nutzbare) Piktogramm-Sets auf, die die Verhaltensregeln im Umgang mit der Pandemie aufzeigen.
Als Beispiele lassen sich das frei nutzbare Piktogramm-Set der Peter Schmidt Group nennen (Abb. 2) oder die Webseite Font Awesome, deren schriftbasierte Icon-Sammlung unter dem Stichwort «covid-19» 188 Resultate aufführt – vom Toilettenpapier bis zur Gesichtsmaske (Abb. 3).
Auch die Agentur Stiehl/Over/Gehrmann, die die Weiterentwicklung der legendären Otl-Aicher-Piktogramme und deren Lizenzvergabe betreut, hat unter dem Titel «Zeichen der neuen Zeit» 3 neue Covid-19-Piktogramme entwickelt (Abb. 4).
Ebenfalls stellen viele Gesundheitsministerien und Public Health Organisationen ihre Kommunikationsmittel im Kampf gegen das Coronavirus zur Verfügung. So auch das Bundesamt für Gesundheit BAG (Abb. 5) (siehe dazu auch den Beitrag zur Informationskampagne des Bundes auf diesem Blog).
Neutralitätsanspruch versus Identitätsstiftung
Die Vielfalt dieser neuen Corona-Piktogramme zeigt deutlich, dass neben der Idealvorstellung eines neutralen, universellen Bildzeichens das Bedürfnis von Gestalter*innen oder Firmen nach Variationen mit identitätsstiftender Wirkung besteht. Diese ästhetisierende Diversität sorgt für Abwechslung, birgt aber auch die Gefahr der Verwässerung von normierten Bildaussagen.
Neben Kriterien der Eindeutigkeit und Einfachheit gilt es grundsätzlich, bei der Gestaltung von Piktogrammen auf einen hohen Kontrast zwischen Vorder- und Hintergrund zu achten, um die Lesbarkeit zu unterstützen. Eine zusätzliche Vordergrundfarbe sollte nur dann in Betracht gezogen werden, wenn es dafür – abgesehen von ästhetischen Überlegungen – einen guten Grund gibt (beispielsweise verwenden Warn- oder Verbotszeichen Rot als zusätzliche Farbe, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und auf eine mögliche Gefahr hinzuweisen).
Doch welche dieser neuen Corona-Piktogramme eignen sich denn nun auch tatsächlich für eine effektive Kommunikation? Vergleicht man die Icons für das Tragen von Gesichtsmasken, zeigen sich unterschiedliche Ansätze und Qualitäten.
Während Abb. 6 und 7 auf eine Profilansicht setzen, zeigen Abb. 8 und 9 das Gesicht bzw. die Maske in einer Frontalansicht. Die beiden ersten Piktogramme weisen einen hohen Kontrast auf und wirken so auch auf Distanz. Beide Piktogramme sind inhaltlich sehr reduziert. Während beim einen der deutliche Hals den Kopf erkennbar macht, ist es beim anderen das stilisierte Auge. In seiner Verfremdung und mangels deutlicher Kopfform wirkt der Kreis aber eher als Loch denn als Auge. Auch die Maske ist durch ihre starke Reduziertheit und durch die grobe Strichstärke eher schlecht erkennbar. Beim Zeichen von Stiehl/Over/Gehrmann (Abb. 6) hebt sich die Maske durch die Wahl der weissen Farbe auf schwarzem Hintergrund optisch ab. Auch die typischen Ohrschlaufen machen die Maske als solche erkennbar. Beim ersten Zeichen in der Frontalansicht (Abb. 8) hingegen wirken diese Ohrschlaufen eher wie Henkel einer Tasse. Der Verzicht auf ein Gesicht ist verwirrend und unterstützt die Kernaussage, dass eine Maske getragen werden soll, nicht. Über den Zweck der beiden offenen Dreiecke oben und unten an der Maske lässt sich nur spekulieren. Vermutlich sollen sie zeigen, dass es wichtig ist, dass die Maske Nase und Kinn bedeckt. Auch der Einsatz der zweiten Farbe macht in diesem Fall inhaltlich keinen Sinn. Das Piktogramm des BAG (Abb. 9) will zwei Botschaften übermitteln: das Maskentragen in Kombination mit nicht eingehaltenem Mindestabstand. Das Zeichen ist dadurch inhaltlich überladen und verliert an Deutlichkeit, was durch die schwierige Erkennbarkeit der relativ kleinteiligen Masken auf den sehr reduzierten Silhouetten noch verstärkt wird.
Beim Zeichen für «Händeschütteln vermeiden» zeigt sich, dass maximale Reduziertheit die Lesbarkeit auch verringern kann. Während bei den Abbildungen 10 und 11 die sich schüttelnden Hände deutlich als solche erkennbar sind, ist dies bei Abbildung 9 nicht der Fall. Ohne erklärenden Zusammenhang sind weder Hände noch der «Verbotsbalken» erkennbar. Dies liegt auch an der Verschmelzung der beiden Elemente Hände und Balken. Durch die grafische Ausgestaltung repräsentiert das Zeichen eher ein Logo resp. eine Bildmarke. Bei den beiden anderen Piktogrammen zeigt sich ein Unterschied im Einsatz der Zweitfarbe. Das Zeichen der BAG-Kampagne (Abb. 11) setzt auf die Signalfarbe Rot, die als überlagertes Kreuz die Hände sehr deutlich durchstreicht. Warum beim Icon der Peter Schmidt Group (Abb. 10) die beiden Hände unterschiedliche Farben tragen und nicht die beiden Bedeutungsebenen, lässt sich nur mit den gestalterischen Regeln für das gesamte Zeichensystem erklären.
Zeichensysteme, also eine Gruppe von stilistisch zusammengehörenden Zeichen, schaffen optisch einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Zeichen und somit eine Zugehörigkeit zu einem grösseren Ganzen – sei dies eine Firma, ein Grossanlass (z. B. Olympiade) oder eine Informationskampagne. Je nach Ausgestaltung grenzen sich Piktogramme so von der Konkurrenz ab, wirken aber auch einer Verbreitung von bewährten Piktogrammen entgegen.
Die Corona-Icons der Peter Schmidt Group (Abb. 12) sind als System sehr stringent gestaltet mit einer charakteristischen Zweifarbigkeit, einheitlicher Strichstärke und durchgängigen grafischen Prinzipien (bspw. die Art der Durchstreichung). Die Icons aus der BAG-Kampagne (Abb. 13) hingegen sind weniger homogen umgesetzt. Der Abstraktionsgrad der Figuren ist sehr inkongruent. Während diese beim Zeichen «Abstand halten» sehr reduziert sind, ist die Umsetzung von «in die Armbeuge niesen» sehr viel realistischer. Hier wurde die Erkennbarkeit höher gewichtet als die Einheitlichkeit des gesamten Systems. Auch die rot durchgestrichenen Hände fallen in der Gesamtheit aus der Reihe.
Bei den Piktogramm-Systemen, die im Rahmen von Covid-19 eingeführt wurden, lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Das sind einerseits bestehende und schon gut eingeführte Zeichensysteme, wie die Otl-Aicher-Piktogramme von Stiehl/Over/Gehrmann, die aufgrund der neuen Bedürfnisse erweitert wurden (Abb. 4). Andererseits wurden Piktogramm-Familien in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie neu erstellt und aufgrund des Verlaufs der Pandemie laufend ergänzt. Dazu gehört die Zeichenfamilie des BAG (Abb. 5), auf deren Basis bspw. für den öffentlichen Verkehr spezifisch zusätzliche Piktogramme gestaltet wurden (Abb 14). Und schliesslich gibt es Corona-Zeichensysteme, die komplett neu entwickelt wurden und daher auch optisch einheitlich wirken, wie das Beispiel der Peter Schmidt Group zeigt (Abb. 12).
Abschliessend lässt sich sagen, dass es nicht die eine universelle Lösung für Piktogramme gibt, da diese immer im Zusammenhang mit der Absicht des Sendenden, der Bildlesekompetenz und der Erfahrungswelt der Zielgruppe sowie dem Anwendungszweck betrachtet werden müssen. Beachtet man als Designer*in aber diese Zusammenhänge sowie die gestalterischen und semiotischen Grundlagen, können Piktogramme auf effektive und effiziente Weise informieren – und das in einem Bruchteil der Zeit, die das Verstehen eines äquivalenten Textes erfordern würde. Auch wenn dabei ab und zu Popcorn in der Waschschüssel landet…
[1] Kaufmann, Beatrice, Tannys Helfer, Dana Pedemonte, Marika Simon, and Sarah Colvin. 2020. “Communication challenges between nurses and migrant paediatric patients.” Journal of Research in Nursing 25 (3):256-74. doi: 10.1177/1744987120909414.
[2] Christian, Alexander. 2017. Piktogramme. Tendenzen in der Gestaltung und im Einsatz grafischer Symbole. Herbert von Halem Verlag, Köln.