«Wie klingt Heilung» – zu den Klangprojekten von Yoko K. Sen
Kommentar zum Artikel «Wie klingt Heilung» (1) von Jean Odermatt.
Yoko K. Sen ist eine Klangkünstlerin und Gründerin von Sen Sound mit der Vision, die Klangumgebung in Krankenhäusern zu verändern. 2014 musste sie wegen gesundheitlicher Komplikationen ins Spital. Dort wurde sie durch die Geräusche, die sie hörte, zutiefst beunruhigt, und ihre Erfahrung liess sie die Auswirkungen von Klang auf Wohlbefinden und Würde erkennen. In den folgenden Jahren wurde Sen inspiriert, Sen Sound zu gründen, ein soziales Unternehmen, das darauf abzielt, eine bessere Zukunft für die Klangumgebung in Spitälern zu entwerfen.
Die Klangarbeiten von Yoko K. Sen machen auf ein fundamentales Problem im Spitalalltag aufmerksam: den Umgang mit Geräuschen. Zum Alltagsleben von Spitälern gehören akustische Kulissen, welche eher dem Lärm denn dem Wohlklang zuzuordnen sind. Lärm gehört neben Licht, Luft, Unterbrechungen beim Arbeiten oder prekären Platzverhältnissen zu den zahlreichen systemischen Problemen in Gesundheitsbauten.
Seit den Anfängen des modernen Spitalwesens im 19. Jh. bis heute ist Lärm eine Herausforderung für Patient*innen, Mitarbeitende und Spitäler insgesamt geblieben. Florence Nightingale, die als Begründerin der modernen Krankenpflege gilt, schrieb 1859 in ihren heute berühmten «Notes on Nursing» (Anmerkungen zur Krankenpflege): «Notwendiger Lärm ist derjenige, der dem Patienten schadet. Unnötiger Lärm ist die grausamste Abwesenheit von Pflege.» (2)
Als belästigender Lärm bezeichnet man Schall, der das psycho-soziale oder körperliche Wohlbefinden stört und bei den Betroffenen ein Gefühl des Unbehagens auslöst. Lärm behindert die Kommunikation, beeinträchtigt die Konzentration und macht häufig auch noch krank.
Der Begriff belästigender Lärm lässt sich allerdings nicht objektiv definieren. Schallmessungen und vorgegebene Richtwerte geben lediglich einen Anhaltspunkt für den Grad der Belästigung, da der Mensch sehr subjektiv auf Lärm reagiert. Ob ein Geräusch als Belästigung empfunden wird oder nicht, hängt neben der Lautstärke von einer Reihe weiterer Faktoren ab. Massgebend sind die Art des Geräusches und vor allem die Situation und die Einstellung der Betroffenen zur Lärmquelle.
Es ist also wenig sinnvoll, mit Akribie Messdaten zu erheben und dabei die Gefühlsebene der Betroffenen resp. deren Kontextualität ausser Acht zu lassen. Töne können heilsam sein oder als Lärm empfunden werden. Die persönliche Einschätzung ist letztlich entscheidend, ob sich jemand durch Lärm belästigt fühlt.
Allerdings wird Lärm generell als einer der grössten Stressfaktoren in Spitälern identifiziert und ist Quelle häufiger Beschwerden von Patient*innen, Familien und Mitarbeitenden. (3)
Anstelle der empfohlenen 35 Dezibel (dB) (4) werden heute Werte bis über 100 dB festgestellt. Lärm dieser Grössenordnung beschleunigt die Herzfrequenz, steigert den Blutdruck und andere Stressmesswerte. Übermässiger Lärm in Spitälern reduziert zudem die Verständlichkeit von Sprache und beeinträchtigt die Kommunikation, was zu Belästigung, Irritation und Ermüdung führt und die Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung verringert.
Die Herkunft dieser Lärmquellen liegt letztlich in der Historie des Spitalbaus. Um der Infektionshäufigkeit zu entgehen, wurden blanke, leicht zu reinigende Flächen verbaut, welche aber ihrerseits Geräusche reflektieren und verstärken. Zusammen mit dem wachsenden Raumbedarf für die apparative Medizin wuchsen auch die Entfernungen, die die Patient*innen auf ihrem Weg durch die Gebäude bewältigen müssen, was zu weiteren Lärmimmissionen führte.
Forscher*innen der Johns Hopkins University (5) haben den Lärm im Krankenhaus untersucht und alarmierende Ergebnisse vorgelegt: Seit 1960 sind die Lärmpegel drastisch gestiegen – tagsüber von durchschnittlich 57 auf 72 dB. Das entspricht dem Krach an einer Hauptverkehrsstrasse oder beim Staubsaugen. Die nächtlichen Schallpegel in der Klinik kletterten im gleichen Zeitraum von 42 auf 60 dB. Viele medizinische Geräte (6) weisen nur eine geringe oder gar keine Reduzierung der Schallpegel in der Nacht auf. Maschinengeräusche haben zudem einen grösseren negativen Einfluss auf die Erregung als menschliche Stimmen.
Die erhöhte Lärmbelastung hat vielfältige Ursachen. So ist mit der zunehmenden Technisierung auch die Anzahl der potentiellen Geräuschquellen gestiegen. Motorengeräusche von automatischen Infusionspumpen, Spezialbetten, oder vermehrte Alarme in den Gängen. Die zunehmende Freizügigkeit im Umgang mit Besuchsregeln ist eine weitere Ursache für die Zunahme der Umgebungsgeräusche. Nach Ansicht von Expert*innen ist dieser ständig hohe Lärmpegel unter anderem verantwortlich für Kommunikationsfehler zwischen medizinischem Personal und kann auf lange Sicht zu einer Belastung für das Personal führen. (7)
Aber auch Patient*innen sind betroffen, denn diese müssen den Lärm ertragen. Studien belegen, dass Lärm und die damit verbundene Unruhe zu Schlafstörungen und damit letztendlich zu einer verzögerten Genesung führen kann.
Eine aktuelle Studie von Willich (8) weist nach, dass chronischer Lärm das Herzinfarktrisiko um 50 % erhöht, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob er subjektiv als störend empfunden wird oder nicht. Auf Dauerlärm reagiert der Körper mit Daueralarm: Der Adrenalinspiegel steigt, Blutdruck und Blutfettwerte klettern in die Höhe und machen anfälliger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Alle Daten, die in den letzten 45 Jahren in verschiedenen Spitälern gesammelt wurden, weisen auf einen Trend steigender Lärmpegel während der Tages- und Nachtstunden hin.
Klanglandschaft
Im Sinne der Reizreduzierung kommt der akustischen Behaglichkeit besondere Bedeutung zu. Musik verbessert nicht nur das subjektive Wohlbefinden, sondern verändert auch Körperfunktionen. Geeignete Melodien wirken über das vegetative Nervensystem beruhigend. Die bei Schmerzen erhöhte Alarmbereitschaft des Körpers vermindert sich durch sanfte Klänge und weicht einer Entspannung; Puls und Blutdruck sinken, der Atem geht langsamer. (9)
Komfortable Geräuschkulissen wirken stimulierend und tragen zu einer höheren Lebensqualität bei. Sie unterstützen die Orientierung und die Kommunikation zwischen den Bewohner*innen von Pflegeheimen.
Die Förderung einer Klangkultur in Spitälern kann wesentlich zu einer Lärmreduzierung beitragen und als wichtiger Bestandteil einer sicheren und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung betrachtet werden. Dies erreicht man zum Beispiel durch Schulungen oder durch technische Mittel wie Ohrstöpsel, Lärmwarngeräte, Akustikbehandlungspanel oder sogenannte Sound-Masking-Systeme (10), die im Hintergrund lärminduzierte Störungen reduzieren.
Ein vorbildliches Projekt wurde im Montefiore Medical Center in New York unter dem Namen Silent Hospitals Help Healing (SHHH) ins Leben gerufen (11). Dabei ging es darum, den Lärmpegel zu senken, indem es das Personal über Lärmkontrolle aufklärt und die Quellen von störendem Lärm identifiziert und korrigiert. So wurden verschiedene Massnahmen ergriffen, um die Krankenhäuser leiser zu machen, z. B. Transportwagen repariert und die Telefone auf Vibrationsalarm umgestellt. Schichtübergaben wurden leiser und die Besucher*innen wurden angehalten, leiser zu reden. An den Türen findet man Aufkleber mit einer Pflegefachfrau, die einen Finger auf den Lippen hält, der zu mehr Stille auffordert. Dies hat dazu geführt, dass der Lärmpegel von gemessenen 78 dB auf Werte zwischen 50 – 60 dB gesunken ist. Erste Auswirkungen waren, dass Patient*innen deutlich besser schlafen und das Personal weniger gestresst wirkt.
Demgegenüber kann eine akustische Überstimulation bei Menschen mit Demenz zu erhöhtem Wanderdrang, aggressivem Verhalten und Agitation führen (12) . Bei Menschen mit Alzheimer oder anderen Demenzerkrankungen vermag gemeinsames Singen Aggressionen zu mildern und die Lieblingsmusik ist in der Lage, verblasste Erinnerungen zurückzuholen. Musiktherapeut*innen stellen fest, dass Demenzkranke sich häufig noch an Melodien und Liedtexte aus ihrer Kindheit und Jugend erinnern können, auch wenn andere Dinge aus dieser Zeit bereits in Vergessenheit geraten sind. Manche Patient*innen, die eigentlich nicht mehr laufen können, beginnen zu tanzen. Die positive Wirkung hält auch über die Therapiestunde hinaus meist noch an: Die Patient*innen sind aufgeweckter, ansprechbarer und ausgeglichener. Offenbar sind es die grundlegenden Eigenschaften der Musik wie Rhythmus und Harmonie (also akustische Fraktale), welche positive Wirkungen erzeugen.
Oder eben die Implementierung von eigenen Klangwelten, wie das Beispiel von Yoko K. Sen zeigt….
Weitere Videos:
Anmerkungen
(1) https://sz-magazin.sueddeutsche.de/die-loesung-fuer-alles/yoko-sen-interview-88847
(2) https://openlibrary.org/books/OL23322076M/Notes_on_nursing
(4) Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt als Grenzwert für die Nacht in der Klinik 35 dB, am Tage 45 dB. Eine Erhöhung um nur zehn dB sorgt für eine Verdopplung der Lärmintensität.
(5) https://www.researchgate.net/publication/7352418_Noise_levels_in_Johns_Hopkins_Hospital
(6) Lärmwerte:
– Klappe des mobilen Röntgengerätes:84 bis 92 dB
– Absaugkatheter wird auseinandergerissen:78 bis 80 dB
– Urinflaschen laut scheppern und Schränke zuklappen:bis zu 76 dB
– Sekretabsauger:mehr als 59 dB
– Geschirrspülmaschine:70 dB
– Dazu piepen die Monitore, der Kühlschrank und die Reinigung der Zimmer machen Lärm.
Buxton O. M., Ellenbogen J. M., Wang W., et al. 2012 Sleep disruption due to hospital noises: aprospective evaluation, in: Ann Intern Med;157:170-9.
(7) Buxton O. M., Ellenbogen J. M., Wang W., et al. 2012 Sleep disruption due to hospital noises: a prospective evacuation, in: Ann Intern Med: 157: 170-9.
(8) Stefan Willich, Dirkektor Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité Berlin:
Die 2006 in der Kardiologiezeitschrift «European Heart Journal online» veröffentlichten Forschungsergebnisse verbinden die Belastung durch chronischen Lärm mit einem erhöhten Herzinfarktrisiko. Das Risiko scheint in der Hauptsache eher mit der physiologischen Wirkung des Lärms zu tun zu haben als mit dem Stress, den er verursacht. Die Ergebnisse stimmten mit der Hypothese überein, dass es einen Zusammenhang zwischen langfristiger Lärmbelastung und dem Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt.
(10) Sound Masking (Maskieren von Schall) reduziert oder eliminiert die Wahrnehmung von Schall. Die diesbezügliche Technologie fügt einem Raum Hintergrundgeräusche zur Reduzierung von Lärmablenkungen hinzu, um die akustische Zufriedenheit zu verbessern. Dies verbessert die Konzentrationsfähigkeit und die Produktivität der Menschen.
Die Schallmaskierung ist eine wirksame Lösung zur Maskierung von eindringendem Lärm. Sie kann als Lärmschutzlösung verwendet werden, um unerwünschte Geräusche wie z. B. intermittierenden Schall von Maschinen zu maskieren.
(11) Siehe u. a. Xyrichis A., Wynne J., Mackrill J., et al. 2018 Noise pollution in hospitals, in: BMJ (Clinical research ed.). 363. k4808.
https://www.montefiore.org/body.cfm?id=1738&action=detail&ref=381
https://www.researchgate.net/publication/329071853_Noise_pollution_in_hospitals
https://www.kcl.ac.uk/news/noise-pollution-in-hospitals-a-rising-problem
(12) http://www.eph-demenz.de/gestaltung-und-ausstattung