Corona Erinnern

Screenshot des Items 1863 auf Corona-Memory (29.07.2020).

Geschichtsbewusstsein vs. Geschichtsvergessenheit

Wir erleben gerade – regelmässigen Vorwürfen grassierender Geschichtsvergessenheit zum Trotz – weltweit eine besonders geschichtsbewusste Kultur. Ohne Unterlass wird in Tageszeitungen und in den Fernsehnachrichten, noch intensiver aber in Social Media, darüber diskutiert wie wir unsere gemeinsame Geschichte verstehen und erinnern wollen. Wie gehen wir zum Beispiel mit Rassismus und mit Antisemitismus um? An was wollen / sollen / müssen wir uns erinnern?

Diese Frage gilt nicht nur für die Geschichte, die schon war, sondern auch für die Geschichte, die noch geschrieben wird. Natürlich, über Jahrtausende hinweg waren sich die herrschenden Klassen schon immer einer kommenden Nachwelt bewusst und möglichst bemüht mittels Statuen, Prunkbauten und offizieller Chroniken deren Wahrnehmung zu leiten. Dabei handelte es sich aber naturgemäss um sehr einseitige Darstellungen, die heutige Historiker*innen vor die Herausforderung stellt, solche offiziellen Selbstdarstellungen zu durchbrechen. In den demokratischen Nachkriegsgesellschaften ist deshalb – langsam – ein immer stärker werdendes Bewusstsein für die archivarische Bewahrung unseres Alltagslebens gewachsen. Wobei es nicht um eine willkürliche, möglichst vollständige Bewahrung geht, sondern sehr wohl auch um einen bewussten Geschichtsentwurf, ein Geschichtsdesign eigentlich.

Das zeigt sich gerade eben anlässlich der Corona-Pandemie in aller Deutlichkeit. Damit die historische Besonderheit des Moments nicht wie zuvor die Erfahrungen unserer Vorfahr*innen während der Spanischen Grippe dem Vergessen anheimfällt, haben unterschiedliche museale und wissenschaftliche Akteure – vor allem aus dem Bereich der Public History – im Internet dazu aufgerufen, persönliche Erinnerungen, Alltagserfahrungen und Fundstücke zur «Corona-Krise» zu sammeln und auf ihren Datenbanken hochzuladen.

«Corona Sammeln»

Eine der ersten organisierten Aufrufe führte zur Gründung des «Coronarchivs», eine Initiative der Universitäten Hamburg, Bochum und Giessen in Deutschland (https://coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de/): «Sharing is caring – become a part of history» ist dazu unter dem Logo zu lesen. Über 2894 Objekte finden sich derzeit ( Stand 29.07.2020) auf der Seite: persönliche Berichte, Fotos von verlassenen Biergärten, Kinderzeichnungen und Warnschilder. Auf einer Karte sind die einzelnen Objekte geo-getagt. Ein kuratierendes Design lässt sich hinter der Sammlung vorerst noch nicht erkennen. Noch geht es vor allem um das Sammeln an sich. Die Seite gibt sich schlicht und erinnert in ihrer Einfachheit an einen Blog. Im Menü kann man in einer schlichten Maske schnell ein «Corona-Erlebnis teilen». Einen Zugriff auf den Bestand hat man via «Objekte durchstöbern». Hier gelangt man auf eine Liste aller bisherigen «Objekte». Noch gibt es keine Kategorien oder Filter. Man kann aber via erweiterter Suche nach Konkretem suchen. Vom Design her erkennt man, dass die Seite schnell entstehen musste und zweckmässig funktionieren soll. Es geht eindeutig um das Sammeln, das schnell und barrierefrei möglich sein soll. Noch geht es nicht um das Aufarbeiten und Kuratieren. Was mit der Sammlung geschehen soll, wird voraussichtlich erst entschieden. In Zusammenarbeit mit der Seite rufen ausserdem das Medizinhistorische Museum Hamburg, das Museum für Hamburgische Geschichte und das Kreisarchiv des Landeskreis Heilbronn auch zur Sammlung «analoger» Objekte auf.

Screenshot der Rubrik «Objekte durchstöbern» des Coronarchivs (29.07.2020).

Bald schon riefen weitere lokale und nationale Museen zum Sammeln auf: Seit dem 6. April sammelt das Historische Museum Luzern unter dem Titel «Luzern sammelt Corona» (https://historischesmuseum.lu.ch/ausstellungen/Luzern_sammelt_Corona): «Normalerweise schauen historische Museen zurück in die Vergangenheit. Das Historische Museum Luzern dagegen schaut derzeit voraus auf die Zeit nach der Corona-Krise und fragt: Woran werden sich die Menschen im Kanton Luzern später einmal erinnern? Wie wollen wir die Geschichte von der Corona-Krise unseren Kindern und Enkelkindern erzählen? Und ganz konkret: was würde jeder Einzelne von uns aus dieser Zeit aufbewahren?» Der Aufruf beschränkt sich vorerst auf einen Blogeintrag auf der Seite des Museums in der Rubrik «Ausstellungen». Fotos können an eine Emailadresse gesandt werden und werden laut Ankündigung später in einer digitalen Ausstellung auf der Seite des Museums zu sehen sein.

Screenshot des «Corona-Sammlungsprojekts» des Wien Museums (29.07.2020).

Innerhalb kürzester Zeit haben sich solche Sammelinitiativen weltweit vervielfältigt. In Wien rief zum beispiel das Haus der Geschichte zum sammeln auf (https://www.hdgoe.at/corona_sammeln).  Auch hier fand sich nur eine Emailadresse und eine Ankündigung einer Web-Ausstellung. (Edit: Im Augenblick findet sich der Aufruf nicht mehr auf der Homepage des Museums.) Anders im Wien Museum, wo sich der Aufruf zum Sammeln nach wie vor (Stand 29.07.2020) auf der Startseite findet: https://www.wienmuseum.at/de/corona-sammlungsprojekt. Hier lässt sich auch eine erste Auswahl an Fotos direkt auf der Seite des Projekts einsehen. Die Darstellung der Objekte erscheint im Gegensatz zur Liste des Coronarchivs nach ästhetischen Standpunkten gestaltet. Eine Kuratierung und Ordnung lässt sich aber noch nicht erkennen. In Berlin sammelt zum Beispiel derzeit das Museum Europäischer Kulturen unter https://blog.smb.museum/collectingcorona-ein-sammlungsaufruf-des-museums-europaeischer-kulturen/. Hier wird eine kleine Auswahl an Fotomaterial erstmals in Form eines Blogbeitrags kuratiert und kommentiert und so in einen Sinnzusammenhang gestellt.

Schnell geht der Überblick angesichts der vielfältigen Sammelaufrufe verloren, weswegen die International Federation for Public History sich kurzfristig entschieden hat auf einer Seite alle Projekte zu verlinken (https://ifph.hypotheses.org/3225). Die Liste ist aber noch weit davon entfernt vollständig zu sein. Nicht nur Museen und Public History Institute sind an dieser aktiven Historisierung eines aktuellen Ereignisses beteiligt. Das Literaturhaus in Graz gibt seit März wöchentlich ein Corona-Tagebuch heraus, in welchem österreichische Schriftsteller*innen ihre Erfahrungen aufzeichnen (http://www.literaturhaus-graz.at/die-corona-tagebuecher/). In der Schweiz findet sich auf der Seite des Schweizerischen Sozialarchivs eine – schlichte und praktische – Sammlung aller Vorschläge, Forderungen und Positionspapiere von Schweizer Parteien, Interessengruppen und Think-Tanks zur Coronakrise (https://www.sachdokumentation.ch/bestand/dossier/943) und die Aargauer Zeitung sammelt seit März bereits in einem Dossier Berichte aus dem «Corona-Alltag» (https://www.aargauerzeitung.ch/dossier/Corona-Alltag%20im%20Aargau).

Ein Schweizerisches «Katastrophenarchiv»

Bemerkenswert ist eine weitere Initiative aus der Schweiz: Hier sammeln seit kurzem die Universität Bern, das Geschichtsfachportal Infoclio.ch, die Università della Svizzera italiana, das Schweizerische Sozialarchiv und das Schweizerische Bundesarchiv in einem gemeinsamen digitalen Archiv namens corona-memory.ch.  Das Projekt sticht auch deshalb von vergleichbaren hervor, weil es in seinem Selbstverständnis nicht nur der Sammlung und Aufbewahrung dient, sondern auch dem «Gemeinschaftsgefühl» und den «posttraumatischen Heilungsprozess» unterstützen soll (https://www.corona-memory.ch/s/corona-memory/page/about).

Screenshot der Rubrik «Beiträge ansehen» auf Corona-Memory (29.07.2020).

«Digitale Gedächtnisdatenbanken sind partizipative Archive, die während oder unmittelbar nach kollektiven traumatischen Ereignissen eingerichtet werden. Hier werden digitale Medien in verschiedenen Formen gesammelt, z.B. Text- und Audiobotschaften, Videos, Bilder und Social-Media-Inhalte. Solche Katastrophenarchive haben sich bewährt, Menschen nach einschneidenden Situationen zu be­fähigen, wieder ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen, und so den posttraumatischen Heilungsprozess zu unterstützen. Der Austausch von Erinnerungen und das Erzählen von folgenreichen Erlebnissen sind für Gemeinschaften und deren kollektive Genesung von wesentlicher Bedeutung, sie unterstützen die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit.»

Hier schliesst sich der Kreis zwischen Geschichte und Gegenwart. Geschichte existiert nicht ausserhalb unserer Gegenwart. Geschichte erfüllt auch eine Funktion, sie funktioniert als Grundlage für unsere kollektiven Identitäten.


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Eugen Pfister

Eugen Pfister leitet das SNF-Ambizione-Forschungsprojekt "Horror-Game-Politics" an der Hochschule der Künste Bern - HKB. Er forscht zu digitalen Spielen als historische Quellen (spielkult.hypotheses.org).

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