Dicke Luft (Teil 1) – Luftverschmutzung und SARS-CoV-2

Vorbemerkung des Verfassers:
Was hat Luft mit Design zu tun? 

Der Verfasser ist weder Infektiologe noch Spezialist für Aussen- oder Innenluftfragen. Die Idee des dreiteiligen Blogbeitrags liegt vielmehr darin, in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Situation um SARS-CoV-2 aktuelle Forschungsergebnisse aufzubereiten und sie in einen grösseren Zusammenhang zu bringen. Das gängige Silo-Denken birgt die Gefahr in sich, die Übersicht über eines der aktuell brennendsten Themen zu verlieren. Der Fokus der nachstehenden Überlegungen liegt darin, die Bedeutung von Luft als elementarer Teil eines Gesundungsprozesses zu fokussieren. Diese Überlegungen reihen sich in meine früheren Blogbeiträge, welche entsprechende Fragen um Farbe, Lärm und Licht (folgt) beleuchten. Luft ist dabei jenes Element, welches am wenigsten sichtbar ist, dessen Gestaltung dennoch fundamental ist. Auch Luft und deren Behandlung in Luftströmen unterliegen der Gestaltung, was insbesondere für den Heilungsprozess folgenreich ist. Als Ort der Heilung und Genesung kommt der Luftqualität in Spitälern eine geradezu elementare Bedeutung zu. Neben Hygiene und Sicherheit trägt eine punktgenaue Lüftung und Klimatisierung zu einer besseren Raumluftqualität bei, mithin auch zu einer schnelleren Patientengenesung und einer nachgewiesenermassen höheren Mitarbeiterproduktivität.

Die heute bekannten und wissenschaftlich belegten Zusammenhänge zwischen der SARS-CoV-2 Übertragungsrate und schlechter Luft fokussieren wir nachstehend in 3 Teilen:

  • Teil 1 behandelt den Zusammenhang zwischen Klimaveränderung und Luftqualität
  • Teil 2 fokussiert Luft als eines der 9 Fundamente «gesunder Gebäude»
  • Teil 3 geht der Frage nach dem Zusammenhang von Luftqualität und Heilungsprozessen in Spitälern nach.

Die Aussagen basieren auf den bis jetzt zugänglichen, zumeist noch spärlichen, Forschungsergebnissen und bedürfen laufend wissenschaftlicher Überprüfungen und Modifikationen. Sie beanspruchen nicht den Status abschliessender Erkenntnisse, sondern verstehen sich als Denkanstösse.

*

Die Diskussion um den Klimawandel der letzten Jahre hat auf die Bedeutung elementarer Rohstoffe für das Leben der Menschen und deren Zukunft aufmerksam gemacht. Die Luft gehört dabei – zusammen mit Wasser – zu den essenziellsten Rohstoffen. Viele Gase, die das Klima verändern, sind bekannte Luftschadstoffe, welche Auswirkungen auf unsere Gesundheit und die Umwelt haben. 

Obwohl wir nach wie vor nicht gänzlich verstehen, wie sich Klimawandel und Luftqualität gegenseitig beeinflussen, weisen aktuelle Untersuchungen darauf hin, dass diese Beziehung stärker sein könnte als bisher angenommen.

«Weniger Auto fahren, weniger heizen, weniger Fleisch essen» – Parolen gibt es zahlreiche, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Erfolgreiche Masnahmen werden heute daran gemessen, wie sehr sie den Ausstoss von Kohlenstoffdioxid (CO2) verringern. Doch ob in den nächsten 20 Jahren eine Temperaturerhöhung um 2 oder gar 5 °C droht, bewegt die Generation der über 50-jährigen nicht unmittelbar. Demgegenüber hat es allerdings eine junge Generation geschafft, aus den nüchternen rationalen Zahlen eine emotionale Geschichte zu bauen und sie kommunikativ erfolgreich voranzutreiben.

Doch während sich diese Diskussionen für viele Menschen zum Teil noch weit entfernt von ihrem konkreten Alltagsleben abspielen und Themen wie Klimaziele 2050 etc. sich in einem für sie nicht relevanten Zukunftshorizont bewegen, hat sich fast unbemerkt dahinter ein epidemiologisches Phänomen herangeschlichen, welches unmittelbar und in voller Wucht ebenfalls global auftritt. Es berührt unmittelbar die einzelnen Menschen in sämtlichen Regionen der Welt und dies unmittelbar in ihrer Existenz. Massive Einschnitte ins öffentliche und private Leben, wie sie in einem bisher noch unbekannten Ausmass alle betreffen, sind die Folge. Es ist die dritte und bisher verheerendste Pandemie des 21. Jahrhunderts: SARS-CoV-2. (1)

«Am 31. Dezember 2019 wurde der Ausbruch einer neuen Lungenentzündung mit noch unbekannter Ursache in Wuhan in China bestätigt. Am 11. Februar 2020 schlug die WHO den Namen COVID-19 für die Krankheit vor.» (2)

Wie beim Klimawandel steht auch hier ein Element im Vordergrund: die Luft.

Während einzelne Erkenntnisse und Zusammenhänge (z. B. Global Warming) wissenschaftlich gut erhärtet sind, werden andere erst vermutet und bedürfen eingehender (und langjähriger) wissenschaftlicher Erforschung.

Aussenluft: Luftverschmutzung und SARS-CoV-2 (Covid-19)

Gesicherte Erkenntnisse über den Zusammenhang von Luftverschmutzung und Covid-19 gibt es noch nicht. Aber mehrere wissenschaftliche Studien unterstützen die Hypothese, dass eine hohe Luftbelastung mit Feinstaub die Lunge empfindlicher für Atemwegserkrankungen wie Covid-19 macht.

Belegt ist der generelle Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und dem Auftreten von Lungenkrankheiten (3). Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen schlechter Luftqualität (Feinstaub und Stickstoffdioxid NO2) und schweren Covid-19-Verläufen. Gefährdet sind offensichtlich Menschen, die in schlechter Luft aufwachsen oder in Gebieten mit hoher Feinstaubbelastung leben.

Eine Studie von Xiao Wu und Rachel Nethery von der Harvard University (4) weist nach, dass nur ein Mikrogramm mehr Feinstaub pro Kubikmeter Luft die Rate der Todesfälle im Schnitt um 8% erhöht.

Es ist bezeichnend, dass der europäische Coronavirus-Ausbruch genau dort seinen Anfang nahm, wo Wochen zuvor (Januar 2020) die schlimmste Smog-Belastung in ganz Europa zu verzeichnen war: in den norditalienischen Provinzen Lombardei, Emilia Romagna und Venetien. Die dortige Luftbelastung gehört seit Jahrzehnten zu den prekärsten in Europa. Gemäss Aussage des italienischen Umwelt­ministers Sergio Costa lagen die italienischen (Lungen­entzündungs-)Todeszahlen in den Vorjahren stets im Bereich von 80’000 Toten pro Jahr, wovon ein Grossteil in Norditalien zu verzeichnen war. Insofern ist Covid-19 vermutlich nicht der kausale Auslöser der norditalienischen Gesundheitskrise, sondern nur ein zusätzlicher Faktor, der zur bekannten norditalienischen Smog-Krise erschwerend hinzukam und dann das «Fass zum Überlaufen» brachte.

Im Dezember und Januar 2020, dem Beginn der SARS-CoV-2-Ausbreitung in China, kletterte die Luftbelastung in der norditalienischen Poebene auf neue Höchstwerte. 

Quelle: Wikipedia

Nirgendwo in Europa war und ist die Schadstoffbelastung so hoch wie in der Poebene. Diese ist ein auf drei Seiten abgeschlossener, riesiger Kessel, in dem die Luft bei gewissen Wetterlagen wochenlang liegen bleibt. Zudem verzeichnet die Poebene sehr viel Industrie und Privatverkehr. Dazu gibt es noch zu viele veraltete Autos und Heizungen und zu wenig öffentlicher Verkehr.

Norditalien war und ist als Industrieregion deshalb nicht nur stark belastet­, es weht hier auch wenig Wind. Eine lange Inversionswetterlage hält die Luft quasi gefangen über der Ebene. Dadurch entstehen ideale Verhältnisse, damit die mit Tröpfchen und teilweise auch als mikrometergrosse Aerosole ausgeschiedenen Coronaviren minutenlang in der Luft schweben können. Bekanntlich sind Aerosole generell nicht stabil und verändern sich in der Regel im Laufe der Zeit in Abhängigkeit von Luftfeuchtigkeit, Temperatur und weiteren physikalischen und chemischen Prozessen.

Deshalb werden in keiner Region der EU so viele Leute wegen Smog krank oder sterben gar frühzeitig wie in Norditalien. Die Beweisführung, dass jemand tatsächlich wegen Smog erkrankt oder gar stirbt, ist allerdings schwierig und es fehlen konkrete Zahlen und Studien. Expert*innen gehen trotzdem davon aus, dass die regelmässige, hohe Schadstoffbelastung in der Poebene die Lebenserwartung vieler Personen verkürzt. Zahlreiche Studien belegen denn auch, dass überall dort, wo sich besonders viel Feinstaub in der Luft konzentriert, die Zahl tödlich verlaufender Schlaganfälle, Herzleiden und Atemwegerkrankungen wie Asthma massiv erhöht ist.

Am 17.03.2020 wurde hierzu eine Studie des italienischen Instituts für Gesundheit (ISS) veröffentlicht (5). Darin wurden die Daten der ersten 2’000 Toten im Jahre 2020 in Italien ausgewertet. Das durchschnittliche Alter der Verstorbenen lag bei 79,5 Jahren. Lediglich 0,8% der Untersuchten hatten vor der Infektion keinerlei Vorerkrankungen. Die restlichen 99,2% litten an mindestens einer schweren Vorerkrankung. Die Hälfte hatte drei oder mehr Krankheiten, die häufigsten waren Bluthochdruck, Diabetes, Krebs sowie Herz- und Atembeschwerden. 

Das Journal of Infection publizierte im Mai 2020 eine Hypothese (6), dass die an Luftschadstoffen reiche Atmosphäre (insbesondere über hochindustrialisierten Gebieten) zusammen mit bestimmten klimatischen Bedingungen eine längere Permanenz von Viruspartikeln in der Luft begünstigen kann, wodurch eine «indirekte» Diffusion zusätzlich zur direkten begünstigt wird.

Die Autor*innen bezogen sich dabei auf eine chinesische Studie (7). Die Studie zeigt einen engen Zusammenhang zwischen schweren viralen Atemwegserkrankungen, welche eine Infektion bei 10–20 % der Bevölkerung verursachen, und der Luftverschmutzung in deren Region auf.

Die von den Behörden eingeleiteten Covid-19-Massnahmen führten zu einem deutlichen Rückgang der Immissionen (8).

Monitor Air Pollution Lombardia: www.arpalombardia.it

Eine mit Norditalien vergleichbare Situation zeichnete sich auch in China ab. 

Die nachstehenden Abbildungen zeigen, wie die Konzentration von Stickstoffdioxid (einem Schadstoff, der bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe freigesetzt wird) über China in den ersten Wochen nach dem lunaren Neujahrsfest im Vergleich zum Vorjahr (2019) gesunken ist.

Quelle: Washington Post Analysis of Sentinel-5P Satellite Data via the European Space Agency (9)

Fazit: Covid-19 verdeutlicht die Bedeutung und die möglichen Auswirkungen der globalen Luftverschmutzung für die Gesundheit des einzelnen Menschen. Die bisher bekannten, teilweise noch nicht überprüften Studien weisen darauf hin, dass die an Luftschadstoffen reiche Atmosphäre zusammen mit bestimmten klimatischen Bedingungen eine längere Permanenz von Viruspartikeln in der Luft begünstigen kann, wodurch eine «indirekte» Diffusion zusätzlich zur direkten (Mensch zu Mensch) begünstigt wird. Falls sich diese Hypothese bestätigt, könnte sie – auf der Makroebene – Hinweise geben für ein höheres Mass an Kontrolle über das Risiko der Infektionsausbreitung. In der Tat können mögliche Entwicklungen der Diffusion teilweise durch Wettervorhersagen und saisonale Vorhersagesysteme vorweggenommen werden, so dass rechtzeitig Massnahmen zur Eindämmung in kritischen Regionen ergriffen werden könnten. Darüber hinaus könnte sie die Notwendigkeit einer Reduzierung der Luftschadstoffkonzentration als Teil der Massnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19 und anderen Infektionskrankheiten weiter verstärken (10).


Anmerkungen

(1) Zu den Begrifflichkeiten:

Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus SARS-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom «neuartigen Coronavirus».

SARS-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen «Sars-CoV-2» («Severe Acute Respiratory Syndrome»-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

Covid-2: Die durch SARS-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde «Covid-19» (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patient*innen sind dementsprechend Menschen, die das Virus SARS-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

(2) https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie

(3) https://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.1003010

(4) https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.05.20054502v2
https://projects.iq.harvard.edu/covid-pm

(5) https://www.epicentro.iss.it/coronavirus/bollettino/Report-COVID-2019_17_marzo-v2.pdf

(6) https://www.journalofinfection.com/article/S0163-4453(20)30173-0/pdf

(7) Characteristics of COVID-19 infection in Beijing. Tian S, Hu N, Lou J, Chen K, Kang X,XiangZ,ChenH,WangD,LiuN,LiuD,ChenG,ZhangY,LiD,LiJ,LianH,Niu S, Zhang L, Zhang J. J Infect. 2020 Feb 27. pii: S0163-4453(20)30101-8.    doi:10. 1016/j.jinf.2020.02.018. 

(8) Monitor Air Pollution Lombardia: www.arpalombardia.it

(9) https://www.washingtonpost.com/news/powerpost/paloma/the-energy-202/2020/03/09/the-energy-202-three-charts-that-explain-what-coronavirus-is-doing-to-climate-emissions/5e653554602ff10d49ac58c0/

(10) https://www.journalofinfection.com/article/S0163-4453(20)30173-0/pdf


Home


Jean Odermatt

Prof. Jean Odermatt is sociologist and interior designer. He is a professor emeritus at Bern the University of the Arts (HKB). His research focus is on how interior design can promote the process of recovery.

You may also like...

2 Responses

  1. 16/10/2020

    […] Teil 1 behandelt den Zusammenhang zwischen Klimaveränderung und Luftqualität […]

  2. 21/10/2020

    […] Teil 1 behandelt den Zusammenhang zwischen Klimaveränderung und Luftqualität […]

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Search OpenEdition Search

You will be redirected to OpenEdition Search