Datenjournalismus – Made in Switzerland

Im fünften Teil dieser Blogreihe zu Infografiken haben wir mit Marc Brupbacher gesprochen. Er leitet das Interaktiv-Team der Redaktion Tamedia, die Mantelredaktion von BZ Berner Zeitung, Der Bund, Der Landbote, SonntagsZeitung, Tages-Anzeiger u. a. m. Seit 2016 veröffentlicht das Team interaktive Geschichten und hat verinnerlicht, online first zu denken, zu schreiben, zu gestalten und zu programmieren. Gerade während der Corona-Pandemie werden auch beim Interaktiv-Team besonders viele Visualisierungen zur Vermittlung von Informationen erstellt.

Das Schwierigste während der Corona-Pandemie ist, Daten zu erhalten, fasst Marc Brupbacher*, Leiter des Interaktiv-Teams, seine derzeitige Hauptschwierigkeit zusammen. Die Behörden hätten die Hoheit über die Daten – und sowohl der Bund als auch die Kantone gingen sehr restriktiv damit um, wenn es um das Verwendungsrecht des Zahlenmaterials gehe. So müsse sein Team die wichtigsten Kennzahlen der Corona-Pandemie eigenständig recherchieren – etwa beim European Centre for Disease Prevention and Control, bei verschiedenen nationalen Gesundheitsbehörden und Agenturen, bei den Kantonen, bei openZH (offene Behördendaten von Verwaltungseinheiten und Organen des Kantons Zürich) und beim Bundesamt für Gesundheit BAG. Doch der Aufwand lohnt sich: Das täglich aktualisierte Dashboard «Die neusten Zahlen zum Schweizer Covid-19-Ausbruch» hatte bis dato knapp 10 Mio. Seitenaufrufe, und die Verweildauer von über sieben Minuten ist erstaunlich lang. Das Interaktiv-Team betreut jeden Tag die Dateneingabe und kümmert sich um die Qualitätssicherung des Dashboards, welches einen hervorragenden Ruf geniesst. 

Auch beim visuellen Journalismus bleibt der Text weiterhin ein wichtiger Bestandteil, ist Brupbacher überzeugt. Er verweist hier auf den Artikel «So hilft die SwissCovid-App beim Contact-Tracing», in dem mit Text-scroll-overs sehr didaktisch erklärt wird, warum Proximity Tracing sinnvoll ist und wie die verschiedenen Phasen der Ansteckung und Verbreitung des Virus mit und ohne App funktionieren.

Interaktive Vermittlungsformate ermöglichen es, die Artikel regelmässig zu aktualisieren und neue Erkenntnisse während der Corona-Pandemie einzupflegen. So wurde beispielsweise das Thema «Übersterblichkeit» in die verschiedenen Grafiken eingebaut – damit lässt sich die Sterblichkeit mit früheren Jahren (und Grippewellen) vergleichen. Ein anderes Beispiel ist die Ansteckungsgefahr durch Aerosole: Im Artikel «Hier lauert das Virus im Alltag» wird anhand von Videos und Studien aufgezeigt, dass sich das neue Coronavirus nicht nur durch Tröpfcheninfektion verbreiten kann, sondern auch mit Aerosolen, also durch besonders feinen virushaltigen Nebel, der lange in der Luft stehen bleibt. Anhand von vielen Alltagssituationen – Restaurants, Grossraumbüros, Bus/ÖV, Bars/Clubs, Fitness usw. – wird gezeigt, wo und wie die Ansteckungsgefahr besonders gross ist.

Das Leseinteresse an den interaktiven Artikeln war schon vor der Corona-Pandemie sehr gross, doch jetzt ist die Nachfrage nochmals gestiegen. Das Geschäftsmodell des Medienhauses Tamedia besteht online darin, dass – je nach Sichtweise einige oder viele – Artikel angeteasert werden und der gesamte Bericht nur mit einem Abo gelesen werden kann. Die Bezahlangebote Abo+ (für ein oder mehrere Monate) und Tagespass können online aktiviert werden. Die gelösten Abos zeigen, welche Artikel grosses Interesse auslösen. Das Interaktiv-Team generiert mit seinen Berichten verhältnismässig mehr neue Abos als die anderen Ressorts, wie Brupbacher anmerkt.

Das Interaktiv-Team entwickelt hierfür ganz unterschiedliche Erzählformate und lotet das Storytelling bewusst aus, wie die drei nachfolgenden Beispiele zeigen:

Das Quiz «Wie populistisch sind Sie?» wurde vor den letzten Schweizer Parlamentswahlen 2019 in Zusammenarbeit mit der britischen Tageszeitung Guardian entwickelt. Mit diesem Quiz können die User*innen testen, wie populistisch sie selbst veranlagt sind. Die Antworten werden auf einem Raster verortet, der aus zwei Achsen besteht: die Positionierung einer ideologischen Links-Rechts-Dimension und die Ausprägung der Populismusdimension. In der Auswertung können die User*innen sich anhand zweier Grafiken mit ausgewählten Politiker*innen und mit allen Teilnehmenden vergleichen.

Das Populistenquiz war sehr erfolgreich und ging viral – wurde also tausendfach geklickt, geliked und geteilt. Die Useranalyse zeigte, dass mehr als 95 % das Quiz fertig gespielt haben, was im Vergleich mit anderen Quiz einen sehr grossen Wert darstellt. Aufgrund dieses Echos wurde ein Nachfolgeprojekt auch für die Printkanäle entwickelt.

Das zweite Beispiel ist thematisch eine ganz andere Geschichte: der Comic «Die Killer verfolgen ihre Opfer bis in die Notaufnahme» von Felix Schaad. Der Haus-Karikaturist hat während seiner Reise für Médecins Sans Frontières nach Honduras und den Südosten Mexikos seine Eindrücke illustrativ festgehalten. Seine Dokumentation wurde nach der Rückkehr mit dem Interaktiv-Team ausgewertet, portioniert und in eine Graphic Novel verdichtet. Storytelling pur, betont Brupbacher, die Zusammenarbeit war sehr kooperativ und Felix Schaad hat während des Prozesses einige Illustrationen mediengerecht angepasst. Eine Projektzusammenarbeit, die Brupbacher gerne weiterentwickeln resp. diese Form der Berichterstattung öfters umsetzen möchte.

Die Lebensmittel wurden in ihre Zutaten zerlegt (Gewichtsanteile) und im Studio fotografisch festgehalten. Das dritte Beispiel ist ein Longseller: diese Darstellungen verschiedener Lebensmittel waren so verblüffend, dass sie ein enormes Interesse weckten und stetig weiterentwickelt wurden. Dem Artikel «Das steckt drin» folgten ein Jahr später aufgrund seiner Nachfrage weitere Darstellungen («Was steckt drin – Teil 2»). Diese fotorealistischen «Schichtbilder» sind beeindruckende Datenvisualisierungen. Einige dieser Darstellungen wurden in der Ausstellung «Wissen in Bildern – Informationsdesign heute» im Museum für Gestaltung Züricheiner breiten Öffentlichkeit präsentiert (20.09.2019 – 08.03.2020).

Datenjournalismus und Informationsdesign vermitteln unterschiedlichste Inhalte in Kurzform und kombinieren – im besten Fall – intuitiv Wort und Bild. Der Stellenwert der Veröffentlichung und Vermittlung journalistischer Erkenntnisse hat sich während der Corona-Pandemie etabliert und es bleibt zu hoffen, dass die Wichtigkeit weiter zunehmen wird und damit den Weg öffnet, weitere neue visuelle Erzählformate zu entwickeln.


* Marc Brupbacher leitet das Ressort Storytelling & Repackaging im Bereich Digital Products bei Tamedia. Neben dem Interaktiv-Team, das an mehreren preisgekrönten Storytelling-Projekten beteiligt war, ist er auch für die 12-App und die Blogs verantwortlich. Zuvor arbeitete er bei tagesanzeiger.ch/Newsnet unter anderem als Leiter Newsdesk und als Blattmacher. Er studierte Journalismus und Organisationskommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).


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Jimmy Schmid

Prof. Jimmy Schmid is a professor of Communication Design, head of the MAS studies Signaletics - Environmental Communication Design and senior researcher at the Bern University of the Arts (HKB).

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1 Response

  1. 03/01/2021

    […] Lesen Sie auch folgende Artikel auf diesem Blog zum Thema Datenjournalismus:Datengetriebener JournalismusDatenjournalismus – Made in Switzerland […]

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